laut.de-Kritik
Die Scheibe klingt mitunter wie Elton John featuring Refused.
Review von Josef GasteigerEs ist wohl das einprägsamste Keyboard-Riff der letzten fünf Jahre: Die wabernden Synthie-Triolen kriechen gemächlich empor, die gereizt-spannenden Streicher machen nur einem sägenden Downbeat Platz bis Awolnation-Kopf Aaron Bruno mit seinem gutturalen "Sail"-Schlachtruf das einzige Luftloch in der tonnenschweren Atmosphäre füllt. Mit dem Lied kam der Erfolg, vier Jahre gefüllt mit Tourneen und seit mindestens der Hälfte davon die Frage, wann denn endlich der Nachfolger zu "Megalithic Symphony" in die Läden kommt.
Jetzt liegt es da, das zweite Album "Run", das mit dieser Vorgeschichte eigentlich nur zum Scheitern verurteilt sein kann. Und nein, es gibt kein zweites "Sail", in case you were wondering. Das hat Musikfreak Bruno ja schon im Kasten und kann zuschauen, wie viele Veredelungen eine Single überhaupt erreichen kann. Daher besegelt die Awolnation anno 2015 auch etwas andere Gewässer.
Ließ das Debüt noch ohne Unterbrechung die Kinnlade nach unten klappen mit Schlag auf Schlag folgenden, sofort zündenden Ohrwürmern, wirkt "Run" eine Spur zurückhaltender. Die ganz großen Kitsch-Gesten warf Bruno raus und somit auch die Eingängigkeit des ersten Hörerlebnisses. Dieser Schritt hat aber auch einen Hintergrund: Ohne allzu klebrige Melodien, die sofort den Reiz eines Songs an sich reißen, bleibt viel mehr Zeit und Raum, sich der wirklichen Substanz zu nähern. Und sich das Ding von vorn bis hinten reinzuziehen und zu entschlüsseln. Tut man das, ist plötzlich klar: Hier liegt 55 Minuten langer, ziemlich geiler Scheiß!
Ja, "Run" ist dunkler, nicht mehr so eingängig und beherbergt auch keine überlebensgroße Nummer wie "Sail". Aber abwechslungsreich und überraschend, das ist es allemal! Vielleicht passend dazu Aarons Credo für Album Nr. 2: "It's a music lover's album."
Aber der Reihe nach: Eine düstere Synthie-Line schmiegt sich zwischen repetitiv-aufbauende Streicher im Opener "Run" und Aaron meldet sich erstmals zu Wort: "I am a human being / capable of doing terrible things". Der Ton steht fest, die Spannung bleibt. Bis wild entschlossene Gitarrenwände loslaufen und den Track spalten, während Bruno wieder seine Trademark-Screams auspackt. Derartige Industrial-Finsternis muss erst einmal verdaut werden. Nichts leichter als das, her mit der ersten waschechten Pianoballade, die klingt, als würde Elton John in den 70ern schon einen blutjungen Dennis Lyxzén eingeladen haben, um über den letzten Chorus in voller Brust zu schreien. Wahnsinn, aber voilà: "Fat Face".
Der Sprung von Noise-Soundkollagen zur Pianoballade ist ein geringer für Awolnation und macht auch diesen ungemeinen Reiz der Band aus. Selbiges gilt für die Produktion: Mal klingen seine Keyboards nach billigem Casio-Abklatsch, mal nach all dem, das in den letzten zwei Jahren unter EDM firmiert. Einmal klingen die Snare-Schläge nach Bleistift-Spitzen, bei der nächsten Nummer wieder nach Kirchenglocken.
Unter dieser Marschrichtung rennt auch "Run" weiter: "Hollow Moon (Bad Wolf)" zieht harmoniebedürftige Killing Joke im Vers auf eine Rollschuh-Dancefloor der Achtzigerjahre und retour. "Jailbreak" wiegt sich mit zurückgenommen Tempo, sirrenden mehrstimmigen Chören und Brunos fließendem Wechsel zwischen Wiegenlied-Melodien und passionierten Screams am ehesten noch in "Sail"-Gefilde und steht wahrscheinlich schon als nächster Single-Kandidat fest.
Die Unberechenbarkeit Brunos sorgt auch bis zur letzten Sekunde dafür, dass der Hörer alles auf dem Zettel haben sollte, solange die Track-Uhr noch läuft. Hat man beispielsweise das pumpende Adrenalinmonster "KOOKSEVERYWHERE!!!" schon nach 30 Sekunden als prügelnden Uptempo-Ausgleich abgetan, hebelt nach dem sturen Gitarrengeschrammel ein kleiner Akkordwechsel den harten Refrain aus und hievt das dahinterliegende Harmonieverständnis uns allen breit auf die Nase. Sollte eigentlich bei einer Band nicht überraschen, die live zu gleichen Teilen die Everly Brothers und Rage Against the Machine covert.
Weiteres Beispiel gefällig? Zur Albummitte trifft sich der Akustikgitarren-Walzer "Headrest For My Soul" mit der durchgeknallten Falsetto-meets-Asterioden-Heavyness von "Dreamers". Beide Songs sind etwa zwei Minuten lang, könnten aber genretechnisch nicht weiter voneinander entfernt liegen. Wenn man hier überhaupt noch von einzelnen Genres sprechen darf. Auf "Run" packt sie Bruno dennoch Schulter an Schulter auf eine Platte und es funktioniert, belebt es doch den Hörfluss eines Albums ungemein und lässt Langeweile außen vor. Kein leichtes Unterfangen bei 14 Tracks in 55 Minuten.
Neben nuanciertem Hokuspokus mit Laut/Leise-Dynamik und Überraschungen hinter jedem Taktstrich schielt der Kalifornier hin und wieder doch auf die Hooklines. "I Am", "Windows" und "Woman Woman" tragen allesamt krude Strophen vor sich her, um im Refrain vollends aufzugehen und alle Labyrinth-Wände einzutreten. Kämpft man sich durch das teilweise struppige Unterholz, könnten vor allem die musikgewordene Hoffnung von einer Vocal-Line in "Windows" und der treibende Refrain-Omph von "Woman Woman" ihre Widerhaken im popkulturellen Unterbewusstsein ausfahren.
Nachdem Awolnation in "Lie Love Live Love" noch einmal mindestens fünf Genres in durchwegs großartige 4:40 Minuten packen (Von Reggae bis Grunge klingt hier alles durch), kommt "Run" mit dem klassischen Rausschmeißer in Form der ruhigen Vocal-Nummer "Drinking Lightning" im fluffigen Synthie-Nebel zum Ende.
Die Bedienungsanweisung für diese Scheibe liegt auf der Hand: Nicht von der überbordenden Vielfalt und der zunächst spärlichen Eingängigkeit abschrecken lassen. Knackst du die Spannungsbögen, entdeckst du selbst nach Durchlauf #10 noch neue Facetten, was "Run" eine weitaus höhere Halbwertszeit beschert als "Megalithic Symphony". Das segelt sowieso schon in den Sonnenuntergang.
5 Kommentare
Vom ersten reinhören (über den Stream) schon sehr interessant, aber im Vergleich zu Megalithic Symphony nicht so eingängig. Was aber nichts schlechtes sein muss. Mehrere Hördurchläufe werden auf jeden Fall folgen!
Hab es mir einmal durchgehört und bin sehr begeistert...Nicht so wahnwitzig wie MS und das find' ich auch ganz gut. Der Mann kann.
Da greif ich doch glatt erneut zur 5. Der Mann kann definitiv. Besonders toll finde ich "Jailbreak".
Ich bin wirklich überrascht. Meine eigenen Erwartungen waren nach dem ersten Album und die lange Wartezeit danach völlig überzogen, was meist zu einer Enttäuschung führt. Und jetzt legt Aaron Bruno tatsächlich einen für meine Ohren würdigen Nachfolger hin. Wieder genauso partytauglich wie Megalithic Symphony und wieder genauso geeignet, um zu Hause die Kopfhörer aufzusetzen und zu genießen. Irre.
So wirklich finde ich ja nicht, dass hier die ganz großen Kitsch-Gesten rausgeworfen wurden, gerade die Lyrics sind sicher nicht jedermanns Geschmack.
Gut so, schließlich machen mit "I Am", "Woman Woman" und "Like People, Like Plastic" just die in dieser Hinsicht zweifelhaftesten Songs auch am meisten Spaß.
Auch wenn bei mir der Vorgänger, weil ausfallsfrei, während ich hier schon ab und zu skippe ("Dreamers", "Windows", "Drinking Lightning"), doch noch etwas die Nase vorn hat:
Ein wunderbares Album.