laut.de-Kritik

Grandioses Pop-Theater, das auf die große Bühne gehört.

Review von

Der 28-jährige Musiker und Sänger Benjamin Clementine gilt seit seinem mit den Mercury Prize ausgezeichneten Debüt "At Least For Now" als großer Hoffnungsträger der britischen Soul- und Singer/Songwriter-Szene. Die Musik des Londoners verflechtet viele unterschiedliche Versatzstücke aus den Bereichen Klassik, Jazz und Pop zu einem theatralischen Gesamtkunstwerk. Mit "I Tell A Fly" greift er die wichtigen, tagesaktuellen Themen unserer Zeit auf.

Das Album leitet mit "Farewell Sonata" eine Klaviersonate über zwei Reisende ein, die ihren ursprünglichen Planeten verlassen und sich an einem anderen Ort auf die Suche nach Glück begeben. Der Track beginnt und endet mit dramatischen Pianoarrangements. Im Mittelteil schwingt sich dieser Song zu einer Alien-Abschiedszeremonie im Glam-Rock-Stil auf, die Parallelen zu "The Rise And Fall Of Ziggy Stardust And The Spiders From Mars" von David Bowie aufweist. "Farewell alien!", singt der Sänger mit der hohen Turmfrisur im Refrain und erzählt somit etwas von seiner eigenen Geschichte.

Leicht hatte es der 28-jährige bisher nicht. In London war er dem strengen christlichen Einfluss seiner ghanaischstämmigen Eltern ausgesetzt. Gegen den Willen seines Vaters hat er sich das Klavierspiel autodidaktisch beigebracht. Nach einem Streit mit seiner Freundin begab sich der Brite mit 19 Jahren nach Paris. Dort war er angeblich zeitweilig obdachlos und als Straßenmusiker aktiv. 2012 lernte er nach seinem Auftritt bei den Filmfestspielen in Cannes den Geschäftsmann Lionel Bensemoun kennen. Dank seiner Hilfe konnte er ein eigenes Label gründen und seine Tracks veröffentlichen.

Zumindest kursiert diese Story durch die internationale Musikpresse. Vieles, was man über Benjamin Clementine geschrieben hat, entspricht aber nicht der Wahrheit. Mit einer Autobiographie, an der er akribisch arbeitet und die später einmal erscheinen soll, möchte der Mecury Prize-Gewinner jedoch Fakten schaffen. Trotzdem ziehen sich Anekdoten und Bezüge aus dem bisherigen Leben des Sängers und Musikers wie ein roter Faden durch "I Tell A Fly".

In "Phantom Of Aleppoville", das seine eigenen traumatischen Mobbingerfahrungen mit den grausamen Ereignissen im syrischen Bürgerkrieg auf eindrückliche Weise verwebt, erreicht diese Platte ihren vorläufigen Höhepunkt. In dieser aus mehreren Teilen bestehenden Nummer hört man verstörende, mysteriöse Frauenstimmen, die den Schrecken des Krieges und die Ausweg- und Hilflosigkeit des Londoners in seiner Kindheit und Jugend auf schmerzhafte Art verdeutlichen und betonen.

Der Track wendet sich musikalisch zum Schluss um 180 Grad und schafft dadurch viel Raum für die einnehmende Performance des Briten zwischen der Sensibilität eines Jimmy Scott, inklusive lyrischen Twin-Peaks-Anspielungen, und dem kraftvollen, leiderfüllten Vortrag eines Otis Redding.

In der zärtlichen und geisterhaften Klavierballade "Quintessence", dem besten Stück auf dieser Scheibe, heißt es: "Love is all i need to give." Der Londoner möchte dieser Welt, in der ununterbrochen eine Menge Elend geschieht und in der er so viel Schmerz erfahren musste, etwas Positives und Kraftvolles zurückgeben.

Weiterhin beweist das Album, dass der 28-jährige seinen Sinn für Humor nicht verloren hat. Wenn in "By The Ports Of Europe" zu Monty Python-Gesängen gut aussehende Reporterinnen vor Flüchtlingscamps stehen und er in "Paris Cor Blimey" Marine Le Pen zu barocken Cembaloklängen verballhornt, klingt das urkomisch. Man merkt, dass die Platte anfänglich für eine Theaterarbeit konzipiert war. Dieses vor literarischen Referenzen von George Orwell bis Ernest Hemingway und musikalischen Einflüssen von Tom Waits, Sparks bis Claude Debussy durchzogene, grandiose Werk gehört auf die große Bühne.

Die schwebenden Synthieklänge in "Ave Dreamer" runden das Album wunderbar ab. Es heißt in dem Song: "Barbarians are coming! Dreamers stay strong!" In Zeiten des drohenden Rechtsrucks in Europa, den schweren Menschenrechtsverletzungen im arabischen Raum und einer zum US-Präsidenten gewählten Witzfigur nimmt die Popmusik als ein Medium, selbständige Denkprozesse zu fördern, eine um so wichtigere Funktion ein. Die Zeilen fordern den Hörer auf, sich Gedanken darüber zu machen, was er diesen negativen Entwicklungen persönlich entgegenzusetzen vermag.

Mit "I Tell A Fly" hat Benjamin Clementine keinesfalls den Anspruch, das politische Geschehen zu kommentieren und Ratschläge zu verteilen. Das Album handelt von menschlichen Geschichten und Schicksalen, mit denen er sich ebenso empathisch, kritisch und humorvoll auseinandersetzt. Obwohl die Kombination aus E- und U-Musik, Theater und Satire auf diesem Werk zunächst einmal ungewöhnlich erscheinen mag, braucht man vor dem letztendlich überwältigenden Ergebnis keinerlei Berührungsängste zu haben.

Trackliste

  1. 1. Farewell Sonata
  2. 2. God Save The Jungle
  3. 3. Better Sorry Than Asafe
  4. 4. Phantom Of Aleppoville
  5. 5. Paris Cor Blimey
  6. 6. Jupiter
  7. 7. Ode From Joyce
  8. 8. One Awkward Fish
  9. 9. By The Ports Of Europe
  10. 10. Quintessence
  11. 11. Ave Dreamer

Preisvergleich

Shop Titel Preis Porto Gesamt
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Clementine,Benjamin – I Tell A Fly (Limited Digisleeve) €8,77 €3,00 €11,77
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Benjamin Clementine – Benjamin Clementine: I Tell A Fly (PL) [CD] €15,66 €3,00 €18,66

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Benjamin Clementine

"The future sound of London" werden selbst im Hype-umwobenen Musikbritannien die wenigsten genannt. Mit lediglich einer EP ("Cornerstone", 2013, Behind) …

3 Kommentare mit einer Antwort

  • Vor 7 Jahren

    Geniales Album. Musik für Soziologen und andere akademische Taugenichtse. Zwar teils affektiert und operettenhaft, aber immer mit dem nötigen musikalischen und künstlerischen Ernst vorgetragen. Clementine hat auch einen guten Sinn für Humor, der mir gefällt.

  • Vor 7 Jahren

    Also sorry, aber das ist schon ziemlich random alles.
    Merkwürdig disharmonischer Katzenjammer begleitet von einer teilweise extrem unangenehmen Stimme und dann zwischenzeitlich auf einmal Clair de Lune? :D Mit "Pseudointellektueller BS" das Album ganz gut beschrieben, wie ich finde. Habe mich ziemlich durchgequält, obwohl ich Bock drauf hatte.
    An zwei, drei Stellen lachte ich laut, zwei bis drei positive Ausreißer wie "By the Ports of Europe" und die zweite Hälfte von "Phantoms of Aleppoville" waren dann doch durchaus gut hörbar.
    Gehörte 2/5.

  • Vor 6 Jahren

    Ich muss sagen, ich bin durch den Track auf dem neusten Gorillaz Album auf Benjamin Clementine aufmerksam geworden.

    Seitdem hab ich beide Alben gehört und finde sie einfach großartig.