laut.de-Kritik
Wahnwitzige Ohrwurmqualität mit cleversten Arrangements.
Review von Josef GasteigerMitten im schottischen Hochland, nicht allzu weit entfernt von der Biffy Clyro-Geburtsstätte, befindet sich Electric Brae: Ein Abschnitt einer Landstraße und gleichzeitig ein Naturphänomen. Dort hat es den Anschein, als ob abgestellte Autos wie von Geisterhand bergauf rollen. Natürlich ist alles nur eine optische Täuschung durch die umliegende Landschaft. In Wahrheit gehts bergab, daher rollt auch der fahrbare Untersatz ohne menschliches Zutun. Der Weg nach oben, der nach unten führt? Ein treffendes Gleichnis für Biffy Clyro und ihr sechstes Album "Opposites"?
Mitnichten, obwohl doch vieles darauf hin deuten könnte: Ein Doppelalbum war schon in so mancher Diskografie der erste Sargnagel. Die zunehmende Radiofreundlichkeit im Sound und der Fanzuwachs durch Gelegenheitshörer stoßen einigen sauer auf. "Opposites" kann möchte daran sicher nicht allzu viel ändern. Die Sellout-Rufe werden Chorstärke annehmen und ob der Eingängigkeit und der Keyboard- sowie Orchesterelemente wetzen "Infinity Land"-Puristen jene Messer, mit denen sie seit "Puzzle" den Underground-Status dieser Band zu verteidigen suchen. Jedoch, und hier kommts: Nichts ist angesichts der Klasse der vorliegenden 20 Songs leichter vom Tisch zu wischen als diese Unkenrufe der Ewiggestrigen.
Dass nichts Halbgares den drei Schotten ins Plattenarsenal kommt, ist sowieso klar. Auf "Opposites" loten sie ein neues Extrem aus, jedoch nicht die Krachtoleranz der Alben Nummer zwei und drei. Es ist der bewusste Schritt hin zum hymnischen Bombast, der einer anderen britischen Combo zuletzt so formidabel das Genick brach, im Hause Biffy jedoch perfekt durchexerziert wird. Da fliegen einem die dicken Refrains nur so um die Ohren, da jammern Geigen gegen Verstärker-Dämme an, da hat man kaum eine Chance, sich gegen unverholene Catchyness zu wehren. Intensiv und knapp 78 Minuten lang.
Warum man nicht alles kategorisch in den Schmalztopf pfeffert und eine rituelle CD-Verbrennung anleiert, hat viele Gründe. Um wahre Lautstärke zu kreieren, muss man bekannterweise erst einmal eine leise Note beherrschen. Genauso verhält es sich mit der Eingängigkeit. Wer stapelweise mitreißende, schmetternde Hymnen fürs Volk schreiben will, der sollte wie Biffy Clyro am besten auch einige Medaillen im frickeligen Progrock an der behaarten Brust tragen. Und die verdiente sich die Band im Verlauf ihrer 18-jährigen Bandgeschichte in Hülle und Fülle.
Auf "Opposites" verdichten sie jedoch ihre magische Formel der cleveren Rockmusik mit Stadionhooks auf Teufel komm raus. Es erscheint unweigerlich die alte Dave Grohl-Weisheit: "Wenn du einen Chorus hast, der dir gefällt, verwirf ihn und schreib einen noch größeren." Diesen Grohlschen Grundsatz nahm sich Sänger und Ideengeber Simon Neil wahrlich zu Herzen.
Bis auf die atmosphärischen Songs "Skylight", "The Fog" und in Ansätzen "Pocket" versuchen sich die Nummern scheinbar mit dickeren Hooks gegenseitig auszustechen. Allen voran "Biblical", "Sounds Like Balloons", "Victory Over The Sun", "The Thaw" oder "The Joke's On Us". Und selbst wenn die Biffy Boys einmal nicht aus den Vollen schöpfen, schlagen sie spätestens kurz vor Schluss noch einen Haken in ganz fremde Gefilde der Verzerrung ("Black Chandelier", "Spanish Radio") oder machen schon mal das halbe Lied zu einem Outro ("Stingin' Belle"). Man kommt nicht umhin, diese Power zu bestaunen.
Wobei trotz aller zur Schau gestellter Opulenz in den Refrains die kreativen Instrumentalideen nicht auf der Strecke bleiben. Öfter als auf den zwei Vorgängeralben stoßen sie uns mit der Nase auf so manche ungerade Taktart und verloren geglaubtes Zick-Zack-Riff. Auch wenn sie längst nicht mehr so aufgescheucht wirken. Ganz dem Standardmuster verfallen Biffy Clyro wahrscheinlich nie.
Produzent Garth Richardson hielt den epischen Ansatz mit einem ausgeschmückten und fetten Soundkostüm fest, wobei auch eine ganze Armada von weiteren Instrumenten sich scheinbar logisch in das Fundament von Gitarre, Bass und Schlagzeug einfügt. "Different People" beginnt mit einer wuchtigen Kirchenorgel (die übrigens den Bogen zum Schlusspunkt "Picture A Knife Fight" schlägt), bevor der Song mit einem der zügellosesten Refrains des Albums durch die Tür bricht. Bei "Little Hospitals" pusten fröhliche Kazoos das Riff mit, auf "Trumpet Or Trap" klappert ein Stepptänzer und auf "Spanish Radio" spielt gar ein mexikanische Mariachi-Band mit den Schotten um die Wette.
"Alles, was wir ausprobierten, hat besser funktioniert, als wir es uns erhofft hatten", verriet Bassist James im Interview. Und so sehr man sich auch wundert und dem ganzen kritisch gegenübersteht, im Rahmen dieses Albums passt alles furchtbar gut zusammen. Selbst große Schmachtfetzen, die einst "Machines" hießen, rücken jetzt mit der direkten Sprache heraus ("Opposite"), und verzücken mit ihrer traurigen Melancholie. Im Gegensatz dazu haben die Drei auch Optimismus im Studio im kalifornischen Santa Monica gefunden. Diesen packen sie am offensivsten in einen sprunghaften, zweiminütigen Wirbelwind ("Woo Woo"), den man so seit einem knappen Jahrzehnt nicht mehr von Biffy Clyro gehört hat. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Wahnwitzige Ohrwurmqualität gepaart mit den cleversten Rock-Arrangements macht "Opposites" zu einem der unterhaltsamsten Doppelalben der letzten Zeit. Stadien werden erzittern, Hände sich gen Himmel erheben und die Stimmen, die sich mit Simon die Seele herausbrüllen, nie versiegen. "Please believe in me like I believe in you", fleht er in "The Thaw". Daran glaube ich gern.
28 Kommentare
Es regnet 5 Punkte.
Nichts wirklich neues bei Denen passiert...Poprock mit manchmal grenzwertig kitschigen Zuckerguss und dazwischen mit härteren Klängen gewürzt. Mir gefällts auch diesmal wieder...weils live immer noch 1000% mehr reinhaut und die Jungs einfach authentisch rüber kommen
Bis der Typ nicht mal seinen Gitarrengurt neu justiert, befasse ich mich nicht weiter damit.
Rock Chandelier finde ich okay. Ins Album habe ich noch nicht reingehört, aber wenn der Song das Album-Niveau widerspiegelt, dann ist es mir zu wenig für fünf Punkte.
und noch mehr muse-bashing...
bravo laut.de, bravo
Wow, bin echt überrascht. Habe mir gerade mal die Alben-Historie von Biffy Clyro auf laut.de angeschaut. Das scheint ja tatsächlich eine ehemalige Indie-Band zusein, die mit ihrer Anpassung an den Mainstream nicht schlechter, sondern besser wurden. Gut, das kann auch nur die Meinung von laut.de sein. Aber von denen hätte ich das am wenigsten erwartet.
P.S: Ich persönlich finde das Album richtg stark.
Super Rezension, die die Vielseitigkeit des Albums sehr gut in den Fokus nimmt. Endlich wird der Übergang einer Band in den Mainstream dieser einmal zu Gute gehalten und nicht in der Rezension gegen sie verwendet. Gerne mehr davon!