laut.de-Kritik

Der Roots Reggae-Klassiker ist auch ein verkanntes Soul-Album.

Review von

Das Album "Rastaman Vibration" steigt gleich in medias res ein. Der Opener heißt "Positive Vibration". "Positive Vibration" fräst sich als fester Slogan nicht nur ins Bob Marley-Vokabular bei Konzertansagen ein. Sondern wird auch zu einem geflügelten Wort bei Reggae-Fans, und über die Subkultur hinaus im allgemeinen Sprachgebrauch. Programmatisch, die Sache mit den positiven Schwingungen!

Der Song erzählt auch von "irie ites", also Weed-induzierten, höheren Gemütszuständen. "Positive Vibration" verkörpert aber weitaus mehr als eine typische Kiffer-Hymne oder eine Party-Nummer. Die musikalische Umsetzung mit stimmkräftiger Unterstützung der drei Background-Sängerinnen I-Three, knüpft an "Them Belly Full" vom Vorgänger "Natty Dread" an und vertraut auf die afrokaribischen Muster des Wechselgesangs, also des Call-and-Response. Der Lead-Vokalist Bob gibt vor, die 'Hintergrund'-Leute rücken in den Vordergrund und antworten.

Judy Mowatt, Marcia Griffiths und Rita Marley sind das Album hindurch sehr präsente Stimmen und eben nicht 'nur' Background-Verschönerung. Der recht kongeniale und hochpolitische Schlusssong "Rat Race" sowie drei zentrale Stücke des Albums flossen aus der Feder von Ehefrau Rita. Ihre Solo-Zeit begann noch, als Bob am Leben und die Wailers aktiv waren. Als sie ihr Debüt "Who Feels It Knows It" 1980 beim Tuff Gong-Label vorlegt, zeigt sich erneut, welch großartige Schreiberin und auch Interpretin sie ist. Wailers-Keyboarder Tyrone Downie borgt sie sich dafür kurzerhand aus. 1982, kurz nach Bobs Tod, engagiert sie eine Background-Vocals-Gruppe für sich selbst: die Melody Makers. (Und mit "Harambé!" landen sie einen Hit.) Auf "Rastaman Vibration" ist also, wie bei jedem Bob-Album, mindestens eine Komponente anders als bei allen anderen Studioalben, neben ausgeprägter 'Soulfullness' hier auch das Songwriting.

Offiziell soll er überhaupt nur einen einzigen Song zur Platte als Autor beigesteuert haben: "Night Shift". Dieses Kuriosum erklärt sich dadurch, dass der Songwriter im Clinch mit seiner Verlagsfirma lag. Ein Gericht gab Jahre nach seinem Tod einer Klage Ritas Recht, dass den Liedern natürlich Bobs Autorenschaft glasklar anzumerken sei und sie daher auch als Witwe Anrecht auf die Tantiemen und - sehr wichtig für das posthume Business - die volle Kontrolle über die weitere Verwertung haben werde.

Die nächste Stufe im System 'Babylon' sind die "Crazy Baldhead(s)". Der Begriff lässt sich wohl zeitlos immer wieder auf Leute anwenden, die kopflos mit dem System gehen und dort in einer Verantwortungsposition auf Autopilot schalten. Legendär ist die lebhafte Dancehall-Duett-Version von Beenie Man und Luciano, die auf einem Wailers-5CD-Sampler 2017 bei einem französischen Label erscheint; als DJ-Single ein Klassiker. Gecovert haben das Lied immerhin aber auch Faithless - ohne vom Original viel abzustreichen. Hier ging es aber wohl auch nicht um eine Huldigung an Bob, sondern um einen Kommentar zur Banken- und Eurokrise. 2010, als der Song rauskommt, sind die 'Baldheads', die genormten westlichen Kapitalismus-Ergebenen, Kokain schnupfende Börsenmakler*innen und Hedge Fonds-Investment-Berater*innen.

"Night Shift" ist ein bassgetränktes, dennoch zartes Stück und eines der am deutlichsten an Gospel-Strukturen angelehnten der Roots Reggae-Geschichte. Warum die Ballade mit heftig orgelnden Keyboards und engelsgleichen Background-Stimmen nie berühmt wurde? Tja, das sind die Marketing-Rätsel der Geschichte. Vielleicht braucht es solche Tracks, damit ein Original-Album auch in seinem Wert die Dekaden überdauern kann. Denn wenn man sich "Rastaman Vibration" nicht kauft, kann man sich "Night Shift" nun mal bis heute nicht ins Regal stellen. Und Augen auf, welche Ausgabe man sich zulegt: Manche Ausführungen enthalten den Bonus Track "Jah Live", den ich keinesfalls missen möchte. Diese Standalone-Single von 1975 überbrückte die für Wailers-Verhältnisse sozusagen 'lange' Album-Pause zwischen "Natty Dread" (25. Oktober 1974) und "Rastaman Vibration" (30. April 1976).

"Jah Live", wie der Songtitel sagt, ist ein religiöses Lied mit der - scheinbar - biblischen Schlüsselzeile "is he who laughs last, (children) is he who wins", einer Abwandlung des Sprichworts "wer zuletzt lacht, lacht am besten" ("he who laughs last, laughs best"). Viel Text hat der Song nicht, spricht davon Feinden die Stirn zu bieten und von 'Jah". Marley legte die Gläubigkeit in den Reggae, das taten Toots Hibbert und Jimmy Cliff nicht, und auch anfangs nicht mal der ultra-religiöse Rastafari und in dieser Phase zeitweilige Island-Kollege Max Romeo. Dennoch denken viele heute (und auch mir selbst ging es lange Zeit so), Roots Reggae drehe sich zwangsläufig immer um eine religiöse Haltung, Jah sei überall gegenwärtig. Das stimmt auch bei Bob Marley nur für die wenigsten Texte, für den ausgestiegenen Bunny Wailer (gestorben am 2. März 2021) dafür dann um so mehr. Wie gesagt, 'nur' ein Bonus Track.

Man könnte so vieles an diesem Album loben. "Roots, Rock, Reggae" etwa - eine Liebeserklärung an Musik selbst: Ob es die vom Jazz angefixten Saxophon-Triller hier sind oder das prägnante "Doo-doop-doo-doop" von Judy Mowatt in der Mitte oder die Huldigung an die R'n'B-Musik im Text ... es bleibt ein sehr positiv einnehmendes Lied. Diskographisch kurios: Das Lied diente als A-Seite, auf den B-Rücken packte man aber "Them Belly Full" vom Vorgänger. Stimmt schon, die beiden Stücke passen auch sehr gut zusammen. "Them Belly Full" ist ohnehin einer der wichtigsten Tracks über Jamaika und seine Armut. Über die Arm-Reich-Spaltung und Gelder, die fließen, um sie zu verschärfen. Drogenhandel-Kartelle, die auch Waffen schmuggeln, gedeckt oder sogar angestiftet von korrupten Politikern sowohl aus Regierung als auch Opposition. Diese düstere Seite sprechen in "Rastaman Vibration" vor allem "War" und Ritas Ballade "Johnny Was" an. Sozialkritik ist ein Gründungsmerkmal des Roots-Reggae.

"Roots, Rock, Reggae" war später der Name eines Songbuchs mit Marley-Nummern, und natürlich klingt in der Begriffspaarung auch das an, was man Marley und vor allem auch Chris Blackwell, dem Island Records-Strategen bis heute vorhält und worüber er sich mit dem erwähnten Bunny Wailer überwarf: Dass man Rock-Elemente in den Reggae übernahm und die jamaikanische Musik damals an den US-Markt anpasste. Bei allem Respekt für konstruktive Kritik, wenn sie es denn wäre: was für ein bekloppter Streitpunkt! Kultur lebt in einer globalisierten Welt nie recht lange pur(istisch).

"Rastaman Vibration" kam in den USA super an. Sogar kommerziell gesehen besser als die vorigen. Obwohl die LP eher nicht diejenigen Songs abwarf, die dann die Best Ofs befüllten. Obwohl das Album handwerklich perfekt ist und das Songmaterial überragende Texte aufweist, und obwohl die Platte vor eingängigen Melodien nur so übersprudelt: Auf dem ikonischen Greatest Hits-Album "Legend" findet sich kein einziges Klangbeispiel aus diesem Meilenstein der Reggae-Geschichte.

Auf Rock-Fans zielt es hingegen gar nicht so primär, wie es das Klischee um Blackwells Intentionen oft nahelegt. Ein Gitarren-Intro der Marke "Stir It Up" gibt es hier nirgends. Und was die Amerikanisierung betrifft: Reggae ist ohne US-Musik sowieso nicht denkbar. Die (Vor-)(Vor-)Vorläufer Mento, Calypso, Ska, Rocksteady - was wären sie ohne afroamerikanische Musikstile oder - siehe Mento - überhaupt amerikanische Einflüsse, selbst Country und Folk? Calypso ohne Blues? Ska ohne Jazz? Rocksteady ohne Motown-Soul? Was sollte schlimm daran sein, die Wurzeln zu benennen?

Bob war 18 Jahre lang aktiv, und die wenigsten, die nur "Legend" kennen, ahnen, was auch in den frühen Jahren schon für grandiose Songs auf Band kamen. Sicher, die Tonqualität der ersten Jahre ist nicht dolle. Die von "Rastaman Vibration" schon. Sie lässt - erst recht in der remasterten Ausgabe - allen Instrumenten im Raumklang ihren Freiraum und überragt technisch die späteren Alben "Survival" (1979) und "Uprising" (1980) an Klangtiefe und Differenziertheit um einiges. "Rastaman Vibration" ist eines dieser Reggae-Alben, die eigentlich auf ein Soul-Publikum zielen. Zumal wenn die Musik Messages und Stories transportiert. Wenn die Texte doch voller Metaphern stecken ("When the cat's away, the mice will play" in "Rat Race", "Hypocrites and parasites / Will come up and take a bite" im philosophischen "Who The Cap Fit") und voll idiomatischer Poesie ("Only who the cap fits, should wear it / And then a-gonna throw me corn"). "Rastaman Vibration" - ein starker und unterschätzter Roots Reggae-Klassiker - und zugleich ein verkanntes Soul-Album!

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Positive Vibration
  2. 2. Roots, Rock, Reggae
  3. 3. Johnny Was
  4. 4. Cry to Me
  5. 5. Want More
  6. 6. Crazy Baldhead
  7. 7. Who the Cap Fit
  8. 8. Night Shift
  9. 9. War
  10. 10. Rat Race
  11. 11. Jah Live

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1 Kommentar

  • Vor 11 Tagen

    Zu "Jah Live" sollte man vielleicht sagen, dass das Lied sich konkret auf den äthiopischen Kaiser Haile Selassie ("Ras Tafari Makonnen") bezieht, der von den Rastas verehrt wird/wurde. Selassie wurde 1975 in einem Putsch getötet. "Jah Live" erschien unmittelbar als Reaktion darauf und artikulierte den Glauben vieler Rastas, dass die Nachricht seines Tods entweder eine Falschmeldung, oder aber dass zwar der physische Tod Selassies eingetreten sei, sein Geist jedoch weiterlebe (eine ähnliche Botschaft gibt es beispielsweise in Burning Spear's Lied "Jah No Dead").

    Tatsächlich wurden Selassies sterbliche Überreste erst im Jahr 1992 gefunden, nachdem das Derg-Regime gestürzt worden war.