laut.de-Kritik

Das definitive Pop-Album, powered by TikTok.

Review von

Letztes Jahr war dieses Album noch eins dieser Alben, die niemand außerhalb einer kleiner Bubble an Online-Pop-Fans überhaupt auf dem Radar hatte. Es hing so im Limbo mit Artists wie Allie X oder Bree Runway herum, von denen ein User unter tausend angelische Lobgesänge hielt, aber man sich doch recht sicher sein konnte, dass es nicht über Platz 79 der Pitchfork-Jahrescharts herauschangieren würde.

In diesem Fall müssen wir diesen einzelnen Nischen-Pop-Kriegern stehenden Applaus zollen, denn sie hatten verdammt nochmal recht. Ein Jahr später und der angelische Lobgesang wurde eingelöst, gar überboten: "The Rise And Fall Of A Midwest Princess" von Chappell Roan ist wohl das definitive Pop-Album des Jahres. Jeder einzelne Song davon ist für sich auf TikTok viral gegangen, in Rekordzeit ist sie zu einem Artist geworden, bei dem Leute sagen, das wäre ihr Traum-Live-Act. Leute kaufen sich Festivaltickets für Chappell, zumindest würden sie, wenn man sicher wissen könnte, dass sie kommt. Und unter all diesem Aufbäumen von Celebrity steht dieses Album, das in seiner Rohheit eine Stufe Mixing-Kompetenz über Indiepop steht. Es ist eine Bibel des Camps, erzsympathisch und doch überraschend komplex.

Chappell Roan singt über die Unstetigkeiten der Beziehungswelt. Es geht um Frauen, die immer nur kurz davor sind, mit ihr durchzubrennen und Männer, die sich nicht über Casualness zu ihr bekennen wollen. Tracks wie "Femininomenon" oder "Coffee" ziehen im Zeitraffer durch den Tinder-Circle of Life. Manchmal wirkt es so, als würde Roan die Unmengen Datenmüll, die an Texten über Gen Z-Dating in den Äther gepustet werden, auf einzelne, zerschmetternde Bilder kondensieren. Vieles hat man schon gehört, aber die Prägnanz und Dringlichkeit, mit der sie es vorträgt, steht doch recht markant für sich.

Um das besser zu verstehen, müssen wir vielleicht einmal dieses magische Schlüsselwort zu ihr aufdröseln. Was genau meint Camp? Die einfache Antwort wäre, dass Camp guten schlechten Geschmack meint. Ergo: Sie kann tacky Pop-Entscheidungen treffen, ohne dass es nervt. Sie kann Emotionen wie Neediness oder Verzweiflung darstellen, sich so richtig darin wälzen, aber trifft den genau richtigen Ton, damit es nicht nervig wird. Aber verwechselt es nicht mit Ironie: Das ist nicht der Grundmechanismus hier. Camp, so habe ich das zumindest immer verstanden, meint die Tragik dessen, etwas sehr, sehr ernst zu meinen, auch wenn man es besser wissen sollte.

Und genau damit fängt sie dann ihre bitter-horny Liebschaften wieder auf. Einer der besten Tracks auf diesem Album ist "Red Wine Supernova". Da singt sie teilweise absurde und fast lächerliche Details in den Refrain. "I don't care if you're a stoner" ist ihr - forcierter - Reim auf den Songtitel, wird dann aber komplett ausgeklammert, wenn sie in der Bridge mit Musical-Rap versucht, diese Frau trotzdem ins Bett zu bekommen. Der ganze Song vollzieht diese Bewegung, die eigenen Standards herunterzuschrauben - und diese Entscheidung vor der eigenen Nase vorbeizuschleusen. Es ist in Dritteln süß, komisch und bescheuert, aber tatsächlich kann der donnernde Refrain es dann trotzdem noch irgendwie mit Adrenalin füllen.

Generell: Sie vollzieht ja jetzt bereits diese Lady Gaga-Bewegung, dass sie eigentlich recht abseitige, sehr queere Musik macht, die dann aber trotzdem den Radio-Dads unerfindlich gut gefällt. Der Grund dafür ist ihre Stimme. Ihr Theatre Kid-Dampfjodeln klingt nicht nur ziemlich einzigartig, sie kann auch leblosen Songs sehr viel Leben einflößen. Selbst wenn ein Track mal nicht den endlosen Dampf mitbringt, "Naked In Manhattan" zum Beispiel könnte eine relativ gesichtlose "Midnights"-C-Seite sein, holt sie doch sehr viel Persönlichkeit und Schmackes raus.

Gewissermaßen ist Chappell Roan die Nische Pop in einer Indie-Welt. Es ist sehr lange her, dass wir ganz große Popstars hatten, deren Genre Pop ohne ein * auskommen würde. Sie und Sabrina sind in dieser Hinsicht fast schon retro und erinnern an die Hochzeiten von Katy Perry und Lady Gaga. Und es macht Sinn, dass nach vielen Jahren, in denen Popstars Rapper, Songwriter oder Country-Artists waren, ein so gradliniger Kick Pop-Serotonin erfrischend wirkt.

Außerdem hätte nicht quasi jeder Song auf diesem Album viral gehen können, wäre da nicht Material für Hit nach Hit nach Hit vorhanden gewesen. Wer "Rise And Fall Of A Midwest Princess" noch nicht kennt, wird überrascht sein, wieviel er oder sie schonmal gehört hat. "Hot To Go", "My Kink Is Karma", "Pink Pony Club", "Super Graphic Ultra Modern Girl". Das Handwerk auf diesem Album ist extrem beeindruckend. Produzent Dan Nigro, gerade vor allem durch seine Arbeit mit Olivia Rodrigo bekannt, lässt seinen Zauber walten, der zu Roan wie die Faust aufs Auge passt. So erklärt sich, warum dieses Album quasi nur die Initialzündung gebraucht hat, um so steil zu gehen, wie es nun der Fall ist. Karaokebars werden nie wieder dieselben sein.

Trackliste

  1. 1. Femininomenon
  2. 2. Red Wine Supernova
  3. 3. After Midnight
  4. 4. Coffee
  5. 5. Casual
  6. 6. Super Graphic Ultra Modern Girl
  7. 7. HOT TO GO!
  8. 8. My Kink Is Karma
  9. 9. Picture You
  10. 10. Kaleidoscope
  11. 11. Pink Pony Club
  12. 12. Naked In Manhattan
  13. 13. California
  14. 14. Guilty Pleasure

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6 Kommentare mit 27 Antworten

  • Vor einem Monat

    Bei "auf TikTok viral gegangen" habe ich aufgehört zulesen.
    Habe ich etwas verpasst?
    Kann mir eigentlich nicht vorstellen, was verpasst zu haben wenn eine Rezi mit diesen Worten startet.

  • Vor einem Monat

    Wann und warum habe ich das mit 3/5 bewertet? Ist das eine Re-Review?

  • Vor einem Monat

    Dieser Kommentar wurde vor einem Monat durch den Autor entfernt.

  • Vor einem Monat

    "I heard you like magic?
    I have a wand and a rabbit."

    Alleine für die Zeile muss ich sie irgendwie gut finden. :D Das Album ist jetzt nicht durchgehend mein Fall, aber die Hitdichte ist bemerkenswert.

  • Vor einem Monat

    Hab mich eben mal damit beschäftigt, warum gerade so eine Kontroverse um sie herrscht. Sie ist eigentlich völlig vorbildlich in ihren Einstellungen. Steht für LGBTQ+-Rechte ein, für Marginalisierte, für Palästina, gegen menschengemachten Klimawandel usw. usf.

    Ein paar einflußreiche TikTok-Trottel haben ihr einen Strick daraus gedreht, dass sie sich nicht zu Kamala Harris bekennt, eben weil sie und die demokratische Partei extrem dürftige bis feindliche Ansichten in diesen Belangen vertritt. Sie bekennt sich zu keinem der großen Kandidaten, empfiehlt "klein" zu wählen, sich politisch zu engagieren.

    Noch mal: Extrem vorbildlich. Sind natürlich nur die lauteren Bubbles, die sich hier mockieren, längst nicht viele auf Social Media. Aber sie haben dafür gereicht, daß sie im Moment aus den falschen Gründen viral geht.

    • Vor einem Monat

      Was soll "klein" wählen hier denn heißen? Lokal oder Drittpartei?

    • Vor einem Monat

      Mein Gott, TikTok ist so ein massives Scheißhaus.

    • Vor einem Monat

      Dieser Kommentar wurde vor einem Monat durch den Autor entfernt.

    • Vor einem Monat

      Ragism schreibt bestimmt auch auf https://www.reddit.com/r/Kommunismus/

    • Vor einem Monat

      Chappell Roan äußert sich bezüglich der US-Wahl im Großen und Ganzen ja genauso wie Taylor Swift. ;)

    • Vor einem Monat

      Warum tritt sie nicht FÜR LGBTQ Rechte IN Palästina ein. Dann wäre schnell Ruhe im Thema.

    • Vor einem Monat

      Es wird vermutet, sie meint damit Jill Stein, Gleep.

      Wäre allerdings auch hier sehr befremdlich, wenn man abseits der zwei ziemlich dürftigen Wahlmöglichkeiten nicht in Betracht ziehen könnte, politisch etwas Anderes zu tun als dort ein Kreuzchen zu machen, verehrtes Kollegium. Es wird Frau Roan vor allem vorgeworfen, überhaupt zu erklären, was an beiden Kandidaten problematisch ist, und sich nicht bedingungslos hinter eine Partei zu stellen.

    • Vor einem Monat

      Eben erst gesehen... Es ist mir hier zum ersten Mal geschenen, wie ich "dass" statt "daß" schreibe... Sonst trenne ich meine Bubbles eigentlich sehr genau. Schätze, das wird der Altersverfall sein. :'(

    • Vor einem Monat

      ich weiss wie du fühlst bruder ich bin auch schon 23

    • Vor einem Monat

      "Wäre allerdings auch hier sehr befremdlich, wenn man abseits der zwei ziemlich dürftigen Wahlmöglichkeiten nicht in Betracht ziehen könnte, politisch etwas Anderes zu tun als dort ein Kreuzchen zu machen, verehrtes Kollegium. "

      Sehe ich tatsächlich nicht so. Vor allem im Präsidentschaftswahlkampf (und eigentlich auch fast allgemein) mit dem Wahlsystem und den Parteien, die die USA halt haben, Drittpartei zu wählen, halte ich schlicht und einfach für politische Dummheit.

    • Vor einem Monat

      (Wobei's da natürlich Ausnahmen gibt. Wenn man z.B. weiß, das der eigene Staat/Bezirk sowieso mit überwältigender Mehrheit an X geht, dann kann man da sicherlich auch mal ein Proteststimmchen ablassen etc.)

    • Vor einem Monat

      Sie erklärt hier (ungefähr bei 1:30), dass sie Kamala Harris wählt.

      https://www.tiktok.com/@chappellroan/video…

      Sie macht in dem Video allerdings auch sehr deutlich, dass sie das nicht aus Überzeugung macht, sondern weil sie die Demokraten für das kleinere Übel hält. Denn wie Gleep schon sagt, es ist im US-System leider sinnlos, eine Drittpartei zu wählen.

    • Vor einem Monat

      Ding ist halt - mit dem Zweiparteiensystem und der notwendigen Wahl zwischen zwei Übeln ist es umso wichtiger, abseits der Wahl aktiv zu werden. Das ist eben ihr wichtigster Punkt. Die meisten sagen einfach: "Wählt den oder die da". Und da wusste ich nie ganz, was davon zu halten ist. Das ist nicht mal die Mindestanforderung für einen demokratischen, geschweige denn einen politischen Menschen.

      Auch in meinem Zitat oben taucht ja mein Punkt auf. Es ist ein Zeichen von Armut, sich auf diesen Clash der Kolosse zu beschränken. Gerade in den USA wird die meiste Politik lokal gemacht, und das mit einem viel größeren Engagement als hierzulande.

      Ich sehe es jetzt nicht pauschal so, aber ich will mal entgegenhalten: Wähle ich nicht aus Überzeugung, sondern einfach nur um Schlimmeres zu vermeiden (so sehen es ja Anhänger beider Parteien), dann kann das sehr wohl auch ein Zeichen politischer Dummheit sein. Chappell Roan hat ziemlich gut erklärt, warum sie von Kamala Harris nicht überzeugt sein kann.

    • Vor einem Monat

      Wer nicht dabei hilft, Trump zu verhindern, der ist maximal lost. Egal, wer da auf der Gegenseite herumturnt.

    • Vor einem Monat

      Naja, aus Überzeugung wählen bringt dir halt auch nichts, wenn deine Stimme garantiert im Müll landet. Von daher halte ich das weniger für eine Frage von "Kleineres Übel vs. Überzeugung" als für eine Frage, ob man mit seiner Stimme tatsächlich gestalten und das gesellschaftliche Leben verbessern (oder halt weniger verschlechtern) oder nur tumb die eigene Überzeugung kundtun möchte, ohne dabei auf den politischen Gestaltungsprozess Einfluss zu nehmen.

      Die selben Überzeugungen kann man ja auch kundtun, indem man dann innerparteilich den progressiveren Kandidaten unterstützt oder sich für Ranked Choice Voting/andere Wahlsysteme einsetzt, damit die eigene Stimme dann irgendwann vielleicht mal mehr Gewicht hat und Drittkandidaten ne Chance haben.

      Das ist halt alles vielversprechender als im Status quo einen Drittkandidaten zu wählen und es dadurch dann faktisch nur wahrscheinlicher zu machen, dass der Kandidat, der weiter von den eigenen Überzeugungen entfernt ist, gewinnt.

      (Und wenn eine der beiden Seiten dazu noch glaubhaft die Demokratie abschaffen möchte, erledigt sicht die Frage natürlich sowieso.)

    • Vor einem Monat

      Ja, selbstredend. Und gleichzeitig beißt sich das so ziemlich gar nicht mit meinem Punkt. Es soll ja nicht dabei enden, ein Kreuzchen zu machen - das wäre im Grunde demokratische Entmündigung.

      Ich habe darüber hinaus eben nur ausgeführt, wie undemokratisch es wäre, sich nur zwischen zwei Parteien zu entscheiden. Da gibt es auch gute Punkte, die für mindestens eine Drittpartei sprechen. Völlig abwegig ist es natürlich nicht, daß eigene Überzeugungen ein wichtiger Punkt der demokratischen Beteiligung sind. Rein fatalistischen Pragmatismus wirste wahrscheinlich auch für keinen brauchbaren Zustand halten, Gleep. Weiter gesponnen, könnte man da auch soweit gehen und sagen: "Unsere ökologischen Lebensgrundlagen gehen kaputt, Naturkatastrophen kommen - da ist es besser, die AfD regiert als daß es gar keine Regierung gibt"

  • Vor einem Monat

    Das Drumherum ist mir ziemlich schnuppe oder lässt mich etwas müde lächeln.
    Was zählt, ist die Musik. Werde ich in ein paar Jahren dieses Album noch hören und Spass dabei haben?
    Ja, denn es ist ein erstaunlich cleveres Werk mit stabilem Handwerk. Da sind mehrere richtig gute Songs dabei und die Frau kann singen!

    • Vor einem Monat

      erst Höreindrücke find ich auch eigentlich ziemlich noice, ma sagen. wird weiter ausgecheckt.

    • Vor einem Monat

      Nach den ersten Eindrücken sind sie langsameren Tracks eine Schwäche der Platte. Die sind einfach nicht packend genug geschrieben oder arrangiert um mich begeistern zu können. Im Grunde alle skipbar bis jetzt!

    • Vor einem Monat

      @Ragism Grundsätzlich einverstanden. After Midnight und Coffe rutschen für mich da rein. Casual ist hingegen gut komponiert, der Refrain ist wirklich gut. Super Graphic Modern Girl klingt gut, langweiligt mich aber. Hot To Go! hat einen 80s Taste und ist catchy; ideal live für die Girls. My Kink is Karma ist einfacher guter Pop. Picture You ist für Skip, aber der Gesang ist top.
      Auch Kaleidoscope bleibt nicht hängen. Pink Pony Club dafür um so mehr. Naked in Manhattan hat coole Momente touch me, touch me...Guilty pleasure gefällt mir nur halb als Song, ist aber klasse produziert und wieder eine ausgezeichnete Interpretation.
      Insgesamt ein insgesamt eine interessantes Album mit manchen Songs die auch später auch Spass machen werden.
      Und ja, ich habe auch den Eindruck, dass jede richtige gute Melodie sie eher dazu motiviert hat diese upbeat zu verpacken. Eigentlich schade, denn sie hätte die Stimme um einen langsamen gut komponierten Song zum glänzen zu bringen.
      Das Potential hört man im späteren Song: Good Luck Baby!. Der erinnert mich an Tears for Fears und das soll was heissen! Fängt very eighties an und entwickelt sich dann mit einer unerwarteten Komplexität in Komposition und Arrangements. Und die Stimme passt perfekt.
      Bin gespannt, was sie junge Dame noch bringen wird.