laut.de-Kritik
Wandeln stets zu nah am Sanatorium.
Review von David HutzelKaum eine Band gibt heuer wohl so viele Rätsel auf wie das Duo CocoRosie. Das letzte Werk der Schwestern, "Grey Oceans" war wie gewohnt eines der kryptischen Sorte. Dabei entscheiden bei den in Paris beheimateten Musikerinnen stets Nuancen des Fingerspitzengefühls, die zwischen schrecklichen, sägenden Klängen und himmlisch-morphinen Soundlandschaften entscheiden. Nur: Zu letzeren erhält man meist nur mühsam Zugang. Da macht auch die neue Platte "Tales Of A Grass Widow" keine Ausnahme.
An welcher Stelle also in dieses geheimnisvolle Haus im düsteren Klangwald einbrechen? "After The Afterlife" hilft einem da, handelt es sich immerhin um eine der Lebkuchenstellen. Die zuckersüße, fragile Stimme Sierra Casadys eröffnet den Track: "Welcome to the afterlife." Dann setzen ein verhältnismäßig wenig trashiger Beat, quakende Synths und Sprechgesang von Schwester Bianca ein – ein äußerst gefälliger Hip-Hop-Song aus dem Jenseits.
Auch wenn viele Stücke auf "Tales Of A Grass Widow" spürbar in Richtung Pop drängen bleibt das Gesamtbild ein anderes. Zu wenige Melodien, zu wenige Zeilen finden nach dem ersten Hören trotz gebetsmühlenartiger Wiederholung ihren Weg ins Ohr. Alles wirkt fürs Erste surreal. Dunkle Bässe und die Stimme von Langzeitfreund Antony Hegarty ("Tears For Animals") oder vertrackte, nervöse Ethno-Trommeln begleitet von gruseligem Gewimmer im Hintergrund tragen ihren Teil dazu bei.
Die gewohnte Verträumtheit sorgt aber ebenso für die positiven Seiten der Platte. Klar, haben CocoRosie dafür einmal mehr mit dem Produzenten Valgeir Sigurdsson (u.a. Björk, Feist) zusammengearbeitet. So lässt sich, bei äußerst genauem Blick in die dunklen Ecken der Freak-Folk-Grotte, doch noch das ein oder andere, helle Glanzlicht erkennen. In "End Of Time" schwebt der Refrain über einem dezent gehaltenen Beat und einer verzerrten Gitarre – die verstörenden Synths geben sich mit homöopathischen Dosen zufrieden.
In der zweiten Hälfte des Langspielers sind die Songs plötzlich lang, verkommen scheinbar zu aufgeblähten, warzigen Monstren. Sieht man zunächst darüber hinweg und lässt sich darauf ein, versteckt sich doch noch die ein oder andere Zuckerstange zwischen sinnlosem Gefrickel: "Gravediggress" und dessen Beatbox-Beat wachsen mit jedem Hören, auch das A-capella-Feeling von überlagernden Vocoder-Stimmen in "Far Away" zieht schließlich in den Bann.
Aber nur, wenn man sich nicht ständig den Kopf über diese einzige akustische Psychose namens "Tales Of A Grass Widow" zerbricht. Denn dafür wandeln die Casady-Schwestern stets zu nah am Sanatorium.
3 Kommentare
Da fehlt ein Stern.
Seh ich ähnlich. Halte es für eines ihrer besten Alben bis dato und im Gegensatz zum bisherigen Output sogar strukturierter und geordneter.
Kann mich nur anschließen: da fehlt ein Stern !!!