laut.de-Kritik
Sich in Stimmungen hinein zu legen, ist ihre größte Stärke.
Review von Ben Schiwek"Zwischen den beiden Live-Alben liegt ein Unterschied von acht Jahren Live-Erfahrung", erzählt Kevin Kuhn und zieht damit den Kontrast zu "Live In Europa", der ersten Live-Platte der Band. Aber Die Nerven haben sich über die Jahre nicht nur als Live-Band weiterentwickelt, sondern auch in ihrem musikalischen Temperament. "Live Im Elfenbeinturm" vereint die melodischeren, unruhig brodelnden und die ausbrechenden, lärmigeren Seiten der Band in einem runden Set.
Dabei ist das Set erstmal ungewöhnlich aufgebaut: Es startet mit den ersten sechs Songs des aktuellen Albums, in der Albumreihenfolge gespielt; erst dann sagt auf der Bühne mal jemand kurz etwas und danach gibt's von dieser Platte gar nichts mehr zu hören. So startet die Show mit einem ziemlich stringent fließenden ersten Akt, der uns gut in die Welt einführt. Dann hakt die Band bekannte Stücke wie "Europa" und "Niemals" ab und mischt für den Rest eine sinnvolle, nicht zu offensichtliche Auswahl an Tracks der Alben ab 2014.
Der Spannungsbogen funktioniert also, und das gilt auch innerhalb der Songs. Laut und leise beherrschen Die Nerven mittlerweile wirklich gut und wechseln dazwischen hin und her. Vor allem die ruhigeren, schwebenden Momente wie "Wie Man Es Nennt" oder "Achtzehn" fesseln. Da legen Die Nerven sich in die Stimmungen so richtig hinein und spielen ihre Instrumente mit zärtlicher Sorgfalt. Die Streicher der Studioversionen fehlen gar nicht, eine Trio-Besetzung reicht aus. Insbesondere Max Riegers hallige Gitarre klingt fantastisch, nach einer großen, grauen Wolke, so sauber gespielt und produziert, dass man teilweise vergisst, dass das ja nicht die Studio-Version ist. Was nicht heißt, dass diese Platte total nah an den Originalen bleibt.
Denn mit der von Kuhn erwähnten gesammelten Erfahrung kommt auch die Leichtigkeit, Songs auszudehnen und damit zu experimentieren. "Große Taten" oder "Der Erde Gleich" etwa gehen mehr als doppelt so lang als die Studio-Versionen, uninspirierte Jams kommen da aber zum Glück nicht auf. Stattdessen geben Die Nerven diesen beiden Songs guttuenden Raum und bauen in Mittelteilen Crescendi auf, die in die lauteren zweiten Hälften der Songs überleiten. Tracks wie diese werden somit zu Kernmomenten und machen mehr Spaß als erwartbar runtergespielte Versionen wie beispielsweise "Niemals".
Und die Crowd geht merklich auf die Exkurse mit, zu denen Die Nerven sie einladen. Nach langgezogeneren Momenten merkt man oft, dass die Fans nun angefixt sind und begeistert mitsingen. Das ist eine der schönsten Sachen an "Live Im Elfenbeinturm": Das Publikum ist klarer Teil der Performance. Nicht, dass die Band große Crowd-Interaktions-Spiele veranstaltet – Bühnenansagen gibt es kaum. Aber die Zwischenrufe oder die Jubel in den kurzen Pausen zwischen den Lärmattacken innerhalb der Songs erinnern immer wieder an die Präsenz der Zuhörer:innen.
So ganz als Teil der Crowd fühle zumindest ich mich da dennoch nicht. "Live Im Elfenbeinturm" dokumentiert ein gut strukturiertes und gekonnt vorgetragenes Set, das allem Anschein nach echt fesselnd gewesen sein muss. Aber ganz so mitreißend, wie es sich live angefühlt haben muss, ist es auf Platte nicht. Die Dynamik, die Hochs und Tiefs manövriert die Band echt gut, das merkt man, aber die Extreme könnten im Mix noch härter reinknallen. Als Live-Album ist es somit kein für sich alleinstehendes Werk mit einer besonderen Atmosphäre – sondern lediglich ein gelungener Fan-Glücklichmacher und ein Beweisstück dafür, dass Die Nerven eine verdammt gute Live-Band sind. Aber das wusste man ja schon.


1 Kommentar mit einer Antwort
Ich kriege es auch mit den Nerven, wenn ich sehe, dass hier noch immer keine Funkyboy Phil Rezi eingestellt wurde. Mit ihm kann man's ja machen!
hat mich jemand geruf...ah, sorry, verlesen.