laut.de-Kritik

Die Nervenenden zucken in Richtung Pop.

Review von

Die Nerven und ihr schier unerschöpfliches Potenzial sind in der Redaktion völlig umstritten - ob die letzten Bandversuche schlechter waren als die Solobemühungen der Bandmitglieder jedoch nicht, zumindest vertrete ich diese abweichende Meinung. Es spricht für die heiße Liebe zu einer Band, wenn man jeder Veröffentlichung selbst nach Enttäuschungen entgegenlechzt, wenn man jede All Diese Gewalt-B-Seite abhören muss, jede Peter Muffin-Bandcamp-Veröffentlichung, jedes Wolf Mountains-Vinyl (mit ihren wunderschönen Covern), weil einem drei junge Typen aus Esslingen auf "FUN", "Fluidium" und "Out" dermaßen den Pelz abgezogen haben, dass man seitdem nackig und frierend durch die Welt laufen muss.

Die Gerbergesellen beginnen "Wir Waren Hier" in kompromissloser Art und Weise und schnell kommt das bekannte, vermisste, ungute Gefühl hoch. Max's Gitarre dient als wogende Wellenwand, den Song tragen aber Sänger Knoth und Kuhn; das tun sie hier in exzellenter Art und Weise. Der Song wirkt viel simpler, als er tatsächlich ist, er unterhält lediglich eingängig, man verpasst vieles, weil sich die Abschnitte so organisch hintereinanderlegen. Die verspielte Strophe mit dröhnendem Bass und scharfem Knoth wechselt sich ab mit dräuendem Refrain, auf dem Julian fast schon losgelöst sing-grölt. Der singt abstrakt über seinen Fluchtwunsch aus der Gesellschaft, garniert mit Anklage ("Kannst du mich retten?").

"Das Glas Zerbricht Und Ich Gleich Mit" übernimmt Max Rieger am Mikrofon, und man fühlt sich auch bei ihm gleich zuhause. Schneller, mehr Rhythmusgitarre, schnellerer Bass und simpleres Schlagzeug, weniger Lärmwand, viel, viel mehr Zweifel, wenn er singt "Warum hab' ich Angst / aber du nicht?". Einzige Schwäche ist der Refrain, in dem Riegers Gesang zu weit nach hinten gemischt wird und der Song im Wesentlichen einfach fortgesetzt wird, nur durch etwas Filter gejagt. Weder die Filter noch die Anpassung in der Produktion wären notwendig, denn der Song ist in seiner Struktur variabel und schlicht gut geschrieben.

Knoth begeht danach "Grosse Taten" und erzählt von einem veränderungsunwilligen Laberkopf; die Kehligkeit der ersten Minute ist grandios, nach dem ersten Refrain wird der Song aber zunächst nur fortgesetzt, ohne an Qualität einzubüßen, aber auch ohne den Schwung weiter auszubauen. Der Titeltrack findet in den Strophen sehr viel schönere Sprachbilder als im etwas abgeschmackten Refrain, dessen Nach-Oben-Treiben auch musikalisch nicht astrein durchdacht wirkt und nicht zum lauernden Beginn passt. Bärenstark fällt das letzte Drittel des Songs aus. Es ist das erste Mal, dass man die Quasi-Live-Aufnahmesituation des Albums, für das sich die Bandmitglieder in ihrer Heimat in Klausur begaben, deutlich vernimmt.

"Wie Man Es Nennt": sehr gute Musik, so nennt man das. Knoth ersäuft gekonnt im Zweifel und gibt dem Song eine Stringenz, die fasziniert und in den Bann zieht. "Meine Haut / wie zerkratzter Lack", singt der Bassist, und immer an genau den richtigen Stellen lässt die Musik los, zieht wieder an, kommt Kuhn von hinten mit einer seiner nie übertriebenen Figuren. Das Ding schunkelt im Midtempo nach Hause, ohne sich irgendwie falsch anzufühlen; eigentlich ist das Pop. "Und ich fühl' mich so fremd / Weiß nicht wie / Man das nennt" sollten bei dieser Eingängigkeit die Auswärtsfans singen.

Das wird kaum passieren, dafür entschädigt das tolle Saitenduett zu Beginn von "Achtzehn". So wirklich schlechter will das auch danach partout nicht werden, während Rieger mit einer unerschütterlichen Glaubhaftigkeit skandiert: "Ich will nie mehr achtzehn sein!". Wie der Vorgängertrack verlässt der Song nie das Parkett einer gewissen Samtigkeit, ohne je gekünstelt rüberzukommen. Wo das Vorgängeralbum meiner Meinung nach zu oft entweder mit angezogener Handbremse oder billiger Eskalation agierte, zeigt ein "Achtzehn", welche Songwriter-Kapazitäten diese drei Musiker haben. Wie viele andere starke Tracks des Albums geht es immer organisch weiter, und doch kommt man ganz woanders raus, als man angefangen hat.

Mit "Bis Ans Meer" folgt der nächste Killer-Beginn eines Tracks, Knoth übernimmt mit einer abartig tanzbaren Bassline und wie so oft auf "Wir Waren Hier" flieht die Band vor sich selbst, diesmal halt ans Meer, wo sie das Wasser anbrüllen. Wieder ist der Refrain gut, während die Strophe, in der Rieger zwischen Knoth schießt und ihn ungeduldig antreibt, wahrnehmbar besser, nämlich perfekt ist. Die organische Verbindung der beiden Parts gelingt wie auf "Das Glas Zerbricht Und Ich Gleich Mit" und "Grosse Taten" nicht nahtlos. Wie unnötig das ist, zeigt auch "Bis Ans Meer" im letzten Drittel, in dem Knoth nicht nur alles am Bass abreißt, Kehligkeit und Bruch in seiner Stimme zulässt und damit unmittelbar brilliert, sondern im freieren Umgang mit dem Refrain, ein freieres Hinführen, das zu einer Weltklasseleistung führt, für die der Beginn eben nicht notwendig war, sondern der einfach schwächer komponiert ist. Manchmal legen sich Die Nerven Korsette im Sound an, obwohl ihre Hüften doch natürlich wunderschön geformt wären.

"Ich Will Nicht Mehr Funktionieren" stellt Kevin Kuhn in den Vordergrund, der handwerklich sowieso über jeden Zweifel erhaben ist und zuverlässig die Stellen identifiziert, in denen er mit Kleinigkeiten Mehrwert liefert. Hier hätte sein freieres Spiel, mit dem er dem Track seinen Stempel aufdrückt, auch im Refrain gutgetan. Der Titel richtet den Finger auf das Albumthema Eskapismus; in dieser Gesellschaft fühlt sich das nächste "Schritt Für Schritt Zurück" ebenfalls wohl.

Musikalisch nähern sich die Nervenenden dem Pop, indem sie ihm fest die Hand drücken und zum Tanz auffordern, ohne den eigenen Charakter einzubüßen. Für die Gitarre in den Strophen hätte jede 80er-Band getötet, geschweige denn die 00er-Emos; das wirkliche Highlight ist aber die Gitarre im Refrain, die in ihrer Poppigkeit eigenhändig den Song hebt. Alles fließt in rasender Geschwindigkeit, aber ohne Schärfe, nicht in die Gegenrichtung. Ein ziemlich perfekter Gitarren-Popsong.

"Disruption" macht den Sack zu, und dafür, dass Die Nerven mal der Inbegriff von disruptiv, anstrengend und nicht absehbar losschlagend waren, ist es beachtlich, wie völlig at ease man ist nach mehreren Hördurchgängen. Auf dem Closer zeigt Knoth, wer der Bassbabo ist, bis Rieger die Gitarren für ein letztes Donnerwetter zusammenruft, das dann nicht kommt, sondern in den Wolken verharrt: "Frei sein ist so ungewohnt" singt Max dazu. Diese Freiheit der Nerven spürt man und sie macht so viel Lust auf mehr. "Wir Waren Hier" ist ein tolles Album. Die talentierteste deutsche Band der U35er (sechstes Album, wohlgemerkt!) lässt die Muskeln spielen und zerreißt dabei die eigenen T-Shirts. Die Band sagt, es sei das erste Album gewesen, dass keine Verbindung zum letzten spüren ließ und da stimme ich zu, da der Ansatz so offensichtlich unterschiedlich war. Ein erstes Album einer noch stärkeren Bandphase, so fühlt sich "Wir Waren Hier" an.

Trackliste

  1. 1. Als Ich Davonlief
  2. 2. Das Glas Zerbricht Und Ich Gleich Mit
  3. 3. Grosse Taten
  4. 4. Wir Waren Hier
  5. 5. Wie Man Es Nennt
  6. 6. Achtzehn
  7. 7. Bis Ans Meer
  8. 8. Ich Will Nicht Mehr Funktionieren
  9. 9. Schritt Für Schritt Zurück
  10. 10. Disruption

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LAUT.DE-PORTRÄT Die Nerven

Ob man Die Nerven nun als Teil einer Bewegung oder einfach als eindrucksvolle Punkband plus x betrachtet, hat auf den Hörgenuss zwar keinen Einfluss.

8 Kommentare mit 18 Antworten

  • Vor 29 Tagen

    Musik von Hässlons, für Hässlons.

  • Vor 29 Tagen

    Die Verbindung zum letzten Albums sind die Streicher in der Mitte und das es insgesammt wieder ziemlich stark ist. Ich verzeihe alle Produzentenausflüge zu Emorappern und ESC Fans mit Farin Urlaub Gedächtnisgesang.

    • Vor 27 Tagen

      Dieser Kommentar wurde vor 27 Tagen durch den Autor entfernt.

    • Vor 27 Tagen

      Meh. Dass mindestens einer der drei ernsthaft Drangsal für nen korrekten Dude mit einigen echt feschen Song- und Selbstinszenierungsideen zu halten scheint, geht mir ehrlich gesagt ein bissl zu weit um die Musik noch weiterhin entspannt und unvoreingenommen hören zu können.

      Oft schweifen dann meine Gedanken bereits nach wenigen Sekunden im Track ab und ich denke stattdessen darüber nach, dass das dort, wo ich herkomme, einfach innerhalb eines umrandeten Bewusstseins einer einzelnen biologischen Entität nicht gleichzeitig aktiviert unterzubringen ist, einerseits ein fantastisches und im deutschen Musikmarkt so bitter benötigtes Solo-Projekt wie "All diese Gewalt" zu pflegen und andererseits anscheinend aufrichtig überzeugt davon zu sein, Drangsals Kunst sei noch irgendetwas anderes mehr als in erster Linie verzichtbar und in zweiter so dreist wie plump aus den Media Control-Charts der 3-5 Jahrgänge vor seiner Geburt zusammengeklau(b)t.

    • Vor 27 Tagen

      john frusciante hat auch mal unterirdischen hip hop produziert...

    • Vor 26 Tagen

      Medieval Chamber war doch ganz in Ordnung.

    • Vor 26 Tagen

      die ging noch HALBwegs...hatte hübsches cover^^

    • Vor 26 Tagen

      ich kenn das, dass man zb aus politischen gründen einzelne Künstler oder Bands für sich cancelt. Aber in ner geschmacklichen hinsicht find ich das schon kurios, dass man ne Band nicht mehr leiden kann, weil einem Drangsal einfach nicht gefällt. Find ich stark...

    • Vor 26 Tagen

      Stimmt, da war ja noch ein tief sitzener Groll, der nicht zu unrecht weitergehegt wird! Ich denke, da sollte noch mal eine Art von Markus Kavka moderiertes TV Duell zwischen Pseudi und Max R. abgehalten werden, um den auf den Grund zu gehen. Im Anschluss gibt es dann hoffentlich genug Publicity, damit man die Möglichkeit bekommt, im Rahmen eines Promiboxen dem Max G. seine wohl verdiente Portion zu überreichen.

    • Vor 25 Tagen

      Gutes Album. Ganz einfach.

  • Vor 25 Tagen

    Das Album ist stark. Für deutschsprachige Gitarrenmusik etwas Besonderes.

  • Vor 25 Tagen

    Interessantes Album. Klar, wenn man sich von deutscher Alltags-Pop-Lyrik abgrenzen möchte,
    geht das vielleicht am Besten in Verneinungen, Verweigerungshaltung und Nihilismus - weiß nicht, ob das am Klang der deutschen
    Sprache liegt oder an unserer Mentalität, über Dinge in bestimmter Art und Weise zu sprechen!?.
    Ein lyrischer Kompromiss kann aber auch ab und zu funktionieren, z.B. offene Plattitüden, die durch das Destruktive, Triviale aber auf den Punkt gebrachte durchbrochen werden, einige Beispiele:

    "Mein Körper ist ein Tempel ich reiße ihn ein.
    nicht wie weg von hier, wenn ich bleibe, geh ich ein.", in "Achtzehn".

    ... oder aber in "Ich will nicht mehr funktionieren" durch ein klares, (endlich) punkiges:

    "Ich hab mich nie weniger für eure ganze Scheiße interessiert".

    An einigen Stellen erinnern sie mich ganz kurz irgendwie an System of A Down, z.B. "Immer mehr (...)", ebenfalls in "Ich will nicht mehr funktionieren".

    Die lyrisch schönste Stelle in dem Album aber ist für mich die folgende und wird auch sofort abgespeichert bzw. auf ein Blatt Papier gemalt und bestimmt heute noch aufgehängt:

    "In meiner Hand da ist der Brief
    Mit meinen Fingern fest umarmt
    Ich schicke ihn bestimmt bald los
    Stattdessen werf' ich ihn immer wieder weg

    Denn ich mache ständig nichts
    Immer weiter Schritt für Schritt zurück"

    Einfach wunderschön, vor allem die Details: statt "in meiner Hand liegt ein Brief" heißt es "In meiner Hand da ist der Brief".

    Das "Da ist" erweckt beim Hörer kurz die Hoffnung auf einen gewissen Pragmatismus/Realismus, der jedoch niemals einsetzt, sondern durch das "immer wieder wegwerfen"
    völlig außen vor bleibt. So stellt man sich gerne energielosen Protest gegen deutsche Bürokratenkultur vor.

    Der geheime Titel des Albums könnte vielleicht "Das Glas zerbricht und ich gleich mit" sein.
    Selbes Prinzip wie oben, eine Mischung aus "Pragmatismus" bzw. "Einfachheit" im Sprachbild und Umständlichkeit in der Formulierung in Einem, anstatt ein einfaches, altbekanntes "ich zerbreche wie ein Glas".

    Die Grundmessage des Albums ist ja genau die Meine, finde auch schwer sowas in so einer Vielfalt (10 Songs) umzusetzen, da es auch irgendwann etwas eintönig wirkt. Die Melodien sind zum großen Teil brauchbar und auch un-anstrengend, was wieder zum Leitmotiv passt.

    Ich kenne die Band nicht, würde jetzt aber einfach mal komplett ins Blaue tippen, ein richtig klassischer Love-Song wäre auch spannend zu hören gewesen - quasi als Kontrast-Kontrast-Kontrast zu den anderen Songs, wobei "Achtzehn" einen als Hörer schon recht gut nochmal aus dem Ganzen rausholt.

    4/5

    • Vor 25 Tagen

      ... kurz: finde den Gedanken des Wegwerfens trotz Potential unglaublich inspirierend. So hat man eine verlässliche Strategie, den kapitalistischen Zwängen etwas Substanzielles entgegen zu setzen. Ich bin zwar selbst nicht spirituell, aber finde, in solchen Momenten passiert immer etwas magisches. Wir müssen also viel öfter das Gegenteil von dem tun, das "Richtig" und "Wichtig" ist. Nur so ist "Sinn" auch erlebbar - nämlich durch Kunst, ohne bzw. durch wenig Zuspruch von Außen.
      . kurz: finde den Gedanken des Wegwerfens trotz Potential unglaublich inspirierend. So hat man eine verlässliche Strategie, den kapitalistischen Zwängen etwas Substanzielles entgegen zu setzen. Ich bin zwar selbst nicht spirituell, aber finde, in solchen Momenten passiert immer etwas magisches. Wir müssen also viel öfter das Gegenteil von dem tun, das "Richtig" und "Wichtig" ist. Nur so ist "Sinn" auch erlebbar - nämlich durch Kunst, ohne bzw. durch wenig Zuspruch von Außen.

    • Vor 25 Tagen

      ... Redundanz gehört selbstverständlich auch dazu ...;)

  • Vor 15 Tagen

    Hervorragende Platte, deren einziges "Problem" ist, dass sie im Schatten des überragenden letzten "Die Nerven"-Albums erscheint. Solche Hits wie "Ich sterbe jeden Tag in Deutschland" hat dieses Album nicht zu bieten, aber dafür mit "Disruption" einen ähnlich atmosphärischen Schlusstrack.