laut.de-Kritik

Wahre Emotionen gegen Fake.

Review von

Die geballte Faust, wenn du einfach schreien möchtest, aber die Situation es nicht nicht zulässt. Das Gefühl der Ohnmacht, das einen bis in den Schlaf verfolgt. Wut, die einen befällt, wenn man bemerkt, wie sich Dinge einfach nicht ändern und alles in einer konservativen Starre verbleibt. Die Nerven brauchen nicht einmal dumpfe Die-Da-oben-Parolen, sondern gaben ihrer Generation schon auf "Fun" und "Out" den Soundtrack zur zornigen Unangepasstheit.

Ob die Band politisch ist, darüber sind sich die Stuttgarter selber nicht sicher. Die Texte richten sich jedenfalls nicht explizit gegen einen festen Adressaten wie den Staat oder Konzerne, es sind die Emotionen, die man von den Shows oder Alben der Nerven mitnimmt und für sich selber verhandeln kann.

Poppig seien die neuen Songs geworden, bemängelte der ein oder andere Fan bereits. Wo genau das für die immer noch wütenden Noise-Attacken wie in "Aufgeflogen" oder "Skandinavisches Design" zutrifft, ist fraglich, aber tatsächlich entfernt sich der Titeltrack "Fake" mit ruhiger Akustik-Gitarre und sanfter Synthesizer-Begleitung so weit vom bisher bekannten Sound, dass sich verbohrte Indie-Hörer ihre Seattle-Träume abschminken können.

"Alles Falsch" könnte schon fast als beschwingt durchgehen, wenn nicht ein böses Stoner-Riff am Anfang dazwischen sägte und der Songtitel in heiserer Trance heraus geschrien würde. Die eigene Wahrnehmung als Pop-Band macht Die Nerven zwar sympathisch unelitär, aber dann dürfte das wohl die härteste Form von Deutsch-Pop seit immer sein, auch wenn sich auf "Fake" mehr ruhigere Momente als auf den Alben davor befinden. Der Intensität tut es auf jeden Fall keinen Abbruch.

"Immer nur dagegen, aber gegen was" heißt es in "Frei". Die große Antwort auf all den Wahnsinn unserer Zeit kann man nicht von drei jungen Menschen erwarten, überhaupt sollte es uns supi gehen, denn alles wird doch gut sowieso. So lehrt es uns der chartsorientierte Konsens, und wenn alles nichts mehr hilft, gibt es ja immer noch ein Antidepressivum auf Rezept.

"Bin ich der Einzige der weint?", singt Julian Knoth und hätte damit dann doch einen Slogan, den man der abgestumpften Lach- und Spaß-Mehrheit jeden Tag unter bzw. in ihre Social Media-Profile kopieren möchte. So einfach machen es sich Die Nerven nicht und können sich doch langsam mit dem Gedanken anfreunden, dass sie nun zu den wichtigsten deutschen Bands gehören, weil sie eben eines genau nicht sind: Fake.

Trackliste

  1. 1. Neue Wellen
  2. 2. Niemals
  3. 3. Frei
  4. 4. Roter Sand
  5. 5. Alles Falsch
  6. 6. Dunst
  7. 7. Aufgeflogen
  8. 8. Der Einzige
  9. 9. Skandinavisches Design
  10. 10. Explosionen
  11. 11. Kann`s Nicht Gestern Sein
  12. 12. Fake

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LAUT.DE-PORTRÄT Die Nerven

Ob man Die Nerven nun als Teil einer Bewegung oder einfach als eindrucksvolle Punkband plus x betrachtet, hat auf den Hörgenuss zwar keinen Einfluss.

3 Kommentare mit 8 Antworten

  • Vor 6 Jahren

    wenn mal eventuell sagen könnte, deass die großen drei im deutschsprachigen neo-postpunkdschungel messer, nerven und kleze sind bzw. waren, kann man die entwicklung von nerven/messer sicherlich bedauern, aber kaum kritisieren.

    ich persönlich kann mit dieser und auch der aktuellen messer.entwicklung etwas weniger anfangen als mit deren früheren sachen. als uralter goth laufen mir da die vollends deprimiert agierenden kleze besser rein. aber das ist echt nur geschmacksfrage und keine der qualität.

    • Vor 6 Jahren

      Als jemand mit einem schwarzen Fleck auf der Seele ohne jemals Goth gewesen zu sein lief mir vor allem das Solo von Max Rieger, "All diese Gewalt", sehr gut rein und entwickelt sich sogar zu einem Langzeitohrenschmaus.

    • Vor 6 Jahren

      Bin da ganz beim Anwalt, obwohl Messers "Im Schwindel" immer noch recht gerne läuft. Letzten Endes hat mich Tobias Siebert aber mit Klez.E mehr gepackt. Rein musikalisch als auch textlich.

    • Vor 6 Jahren

      Hm, wir sind uns hier tendenziell schon ziemlich einig, wobei mein ständiger Messer-Begleiter wohl eher "Die Unsichtbaren", insbesondere "Tollwut(...)" bleibt.

      Wenn Snev nicht schon All diese Gewalt beleuchtet hätte, wäre das von mir in einem Einzelkommentar erledigt worden. Im Gegensatz zu Messer bewegen sich Die Nerven mit dem neuesten Output eindeutig in die von mir erwünschte Richtung, bleiben jedoch insgesamt noch hinter dem Solowerk des Sängers zurück.

      Klez.E indes ist mir bisher ziemlich durch die Maschen geflutscht muss ich gestehen. Wird nachgeholt.

    • Vor 6 Jahren

      Für mich dagegen ist die letzte Messer das mit Abstand beste Album, was ich aus dieser Ecke kenne, ohne bei Klez.e allzu bewandert zu sein. Die erste Hälfte des Albums gehört für mich sogar generell zum besten aus dem deutschsprachigen Gitarrenbereich. Nicht zuletzt, weil sie der Düsternis ein bisschen Film-Noir und Sex hinzufügt und vor allem der Gesangsmelodien wegen. Das ist auch seit je her mein Kritikpunkt an Die Nerven. Aber ich bin eben auch ein kleines Popschweinchen.

    • Vor 6 Jahren

      bei klez.e sind toni und ich ja wirklich totale fanboys. die haben wir das ganze letzte jahr über gefeiert.

      hier das brillante letzte studioalbum:
      http://www.laut.de/Klez.e/Alben/Desintegra…

      und hier das nicht minder großartige livealbum dazu:
      http://www.laut.de/Klez.e/Alben/November-1…

      für mich waren beide scheiben das deutsche highlight der letzten jahre überhaupt. erst anfang des jahres dieser klumpen geronnener negativgefühle bar jeden kutsches. dann habe ich die in hb im frühjahr einem miniclub gesehen. die ganze tour fand (leider) in recht kleinen locations staat. man würde ihnen bessere einnahmequellen wünschen. aber das besondere war, wie glasklar sie ihre kaputtheit soundmäßig auch unter solchen bedingungen servierten.

      ende november dann das brillante liveteil mit dem album und nahezu allen wichtigen kersongs früherer tage. das tunkte die gesamte adventszeit/chanukkah in ihr kklingendes sepia.

      mit dieser intensität kommt obiges für mich einfach nicht entfernt mit. um vergleich sind nerven für mich atmosphärisch mittlerweile eher guter normalerstoff.

    • Vor 6 Jahren

      kleze muss ich mal reinhören, Messer war zuletzt kaum noch anhörbar.

    • Vor 6 Jahren

      Da finde ich "Die Nerven" aber viel interessanter als diesen peinlichen Cure-Klon Klez.e.

  • Vor 2 Jahren

    Roter Sand und Niemals sind retrospektiv mit die besten deutschsprachigen Songs aller Zeiten.