laut.de-Kritik

Komplexer Bildersturm auf Deutschlands Gegenwart.

Review von

Poetischer Realismus für dunkle Zeiten! So kann man den Charakter des dritten Die Nerven-Albums "Out" getrost auf den Punkt bringen. Ihr Unmut über altrevolutionäre Phrasendrescherei hier und öden Eskapismus dort gebiert eine weitere Killerplatte. So schroff wie ein Felsen, so berstend wie ein Vulkan, so treffend wie ein Kugelhagel.

Ähnlich wie ihre Bruderband Messer verfügen sie über analytische Sprachgewalt und scheren sich einen feuchten Kehricht um Genres oder musikalische Schubladen. Trotz der in jeder Sekunde greifbaren Eigenständigkeit ihrer faszinierenden Tracks, kann man das Rezept gleichwohl recht deutlich herleiten. Denn dieses ist alles andere als innovativ; sogar ziemlich eklektisch. Runder Postpunk mündet in zerrenden Noise-Attacken und ersteht hernach auf wie ein Phönix.

Den Gegensatz zwischen ruhenden Augenblicken und Geschredder beherrschen sie dramaturgisch ähnlich postrockend perfekt, wie etwa die frühen Mogwai zu "My Father My King"-Zeiten. Besonders hervorheben muss man den variabel gespielten Bass Julian Knoths. Vom perlenden Bauhaus bis zur Big Black'schen Abrissbirne bieten Die Nerven hier eine erstaunliche handwerkliche Bandbreite.

Auch die hörbar starke Verwandtschaft zu den Helden des Depri-Punk können die Stuttgarter auf dieser Platte nicht verhehlen. Jeder, der solch deutschsprachige Musik feiert, der sollte unbedingt ebenso das Ohr in Richtung der brillanten Urväter EA80 ("Grüner Apfel", "Schauspiele") oder Razzia ("Menschen Zu Wasser") strecken. Alle drei Bands teilen denselben künstlerischen Nenner. Sie ergänzen einander vortrefflich.

Die Texte des Trios gestalten sich dazu angemessen nervend. Dies jedoch im besten Sinne des Wortes. Denn während die Töne den Bauch zur Ekstase verführen, kann man ihren Zeilen kaum lauschen, ohne mit dem Kopfe ins Grübeln, Nachdenken und Hinterfragen zu kommen. So gut wie jeder Song hat ein paar erkenntnisreiche Sätze zu bieten, die den Hörer weder philosophisch noch emotional kalt lassen. Sei es Apathie, unterkühlte Beobachtung à la Lou Reed oder leidenschaftlicher Zorn: Alle Ebenen geben einander die Klinke in die Hand und verschmelzen zum komplexen Bildersturm auf Deutschlands Gegenwart.

Wer Worte aufbieten kann wie: "Wie du immer wieder 'Nein!' sagen konntest, obwohl dir die Luft wegblieb (...), wie du immer wieder 'Ja!' sagen konntest, obwohl du keine Ahnung hattest und wie du immer wieder 'Vielleicht!' sagen konntest, obwohl du eine Meinung hast...", hat als Rockmusiker anscheinend mehr vom Zustand unserer Gesellschaft verstanden, als mancher Soziologe ("Gerade Deswegen"). Spätestens im kontrastierenden Hauch dunkler Romantik wie in "Wüste", haben sie sich den Ritterschlag zur wichtigen deutschsprachige Band vollends verdient.

Doch gerade weil sie so gut sind, kommt man um ein wenig konstruktive Kritik nicht herum. Denn es gibt immer noch Luft nach ganz oben. Das Songwriting könnte gelegentlich eine Spur pointierter sein. Ein paar prägnantere Refrains täten der Dramaturgie gut. Ebenso stünde dem mitunter recht gleichförmigen Sprechgesang von Knoth/Rieger eine Prise effektiver Nuancierung und Charisma gut, um die wuchtigen Texte stimmlich adäquat zu unterstreichen.

Nichtsdestotrotz ändern derlei kleine Wermutstropfen nichts am weit überdurchschnittlichen Niveau von "Out". Es reiht sich unter den interessantesten nationalen Veröffentlichungen des Jahres spielend im vorderen Bereich ein. Wer derartige Klänge ebenso gern mal in der englischsprachigen Variante genießen möchte, greife daneben bedenkenlos zum aktuellen Esben And The Witch-Album "A New Nature".

Trackliste

  1. 1. Die Unschuld In Person
  2. 2. Barfuß Durch Die Scherben
  3. 3. Jugend Ohne Geld
  4. 4. Dreck
  5. 5. Iphone
  6. 6. Den Tag Vergessen
  7. 7. Gerade Deswegen
  8. 8. Wüste
  9. 9. Ich Habe Gelogen
  10. 10. Hast Du Was Gesagt?

Preisvergleich

Shop Titel Preis Porto Gesamt
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Nerven,die – Out €16,98 €3,00 €19,98

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Die Nerven

Ob man Die Nerven nun als Teil einer Bewegung oder einfach als eindrucksvolle Punkband plus x betrachtet, hat auf den Hörgenuss zwar keinen Einfluss.

4 Kommentare mit 6 Antworten

  • Vor 9 Jahren

    "gebiert eine weitere Killerplatte...So schroff wie ein Felsen, so berstend wie ein Vulkan, so treffend wie ein Kugelhagel...ersteht hernach auf wie ein Phönix...Denn während die Töne den Bauch zur Ekstase verführen, kann man ihren Zeilen kaum lauschen, ohne mit dem Kopfe ins Grübeln, Nachdenken und Hinterfragen zu kommen...im kontrastierenden Hauch dunkler Romantik"

    Und ich hatte schon nach dem ersten Absatz eigtl. keine Lust mehr weiterzulesen. Mit übertriebenem Pathos und lyrischer Phrasendrescherei ein Post-Punk-Album zu besprechen passt einfach gar nicht zusammen. Der Anwalt hätte sich das für das nächste Meat-Loaf-Album aufheben sollen.

  • Vor 9 Jahren

    Dieser Kommentar wurde vor 9 Jahren durch den Autor entfernt.

  • Vor 9 Jahren

    Wobei mir Messer noch ein Stück besser gefällt.

  • Vor 9 Jahren

    Gehe sogar noch ein Stück weiter: Die häufigen Vergleiche mit Messer allerorts tun diesen drei Jungs hier überhaupt nicht gut. Nicht, dass sie nich im höchsten Maße angebracht wären - aber im Vergleich zu Messers letztjährigem Monolithen "Die Unsichtbaren" haben Die Nerven mMn mit jedem ihrer Outputs den deutlich kürzeren gezogen, auch und vor allem textlich.

    Und Herr Kubanke kann sich Einschätzungen zu instrumentalen Fähigkeiten irgendwelcher Musiker getrost sparen. Der Bass auf "Out" mag eindeutig hörbar produziert sein und der Typ spielt halt unglaublich songdienlich (mE auch ein Qualitätskriterium bei vielen Bassern), aber außergewöhnlich technisch begabt oder versiert isser jetzt wirklich nicht - also nix von wegen musikalischer Bandbreite und handwerklicher Begabung, der Typ spielt das, was dazu passt und ihm vermutlich als erstes dazu eingefallen ist.

    Wo hier Postrock a la frühen Mogwai-Zeiten stattfindet, hab ich auch noch nicht herausgefunden bzw. gehört. Aber Herr Kubanke ist ja inzwischen berüchtigt dafür, persönliche Favoriten wieder und wieder in jede auch noch so abwegige Rezension als unpassenden Vergleich (am liebsten mit Link zur selbst verfassten Rezi) mit dem Holzhammer einzuprügeln.
    Frei nach dem von diversen laut.de-Redakteuren immer mal wieder phasenweise mit Feuereifer betriebenen Prinzip "Feature dich selbst (und deinen erlesenen Geschmack) wie die Hölle"...

    Mehrfach gehört 3/5.

    • Vor 9 Jahren

      Hihi. Aber hier hat Ulf gleich zwei Texte verlinkt, die nicht von ihm geschrieben wurden: http://www.laut.de/David-Bowie/Alben/Aladd…

    • Vor 9 Jahren

      Und manchmal verlinkt er auch anstatt seiner Plattenkritiken seine Interviews. Get your facts straight, soulburn

    • Vor 9 Jahren

      so'n sack, der herr kubanke. :D ich bedanke mich f d chance zur klarstellung, alter seelenbrenner.

      1. aber sooooo weit hergeholt ist der vergleich nicht immer. postrock ist ja auch ein nachkomme des postpunk. und mit ihrem wechselspiel zwischen leise/laut - melodie/inferno sind die nerven m.E. nach strukturell mitunter näher an ähnlichen philosophien a la mogwai etc als bei punkgenrebands.
      natürlich entsteht so ein vergleich immer spontan beim hören/schreiben. mal trifft er ins schwartze. dann wieder nicht ganz. damit muss man als autor ja leben. nicht wenige rezis würde man monate später etwas anders verfassen als im kurzen zeitfebnster zwischen erhalt und veröffentlichung. aber was sachste denn zur these der verwandschaft mit ea80 und frühen razzia? das finde ich dermaßen offensichtlich....

      2.....und natürlich zitiere ich gern und oft künstler/platten, mit denen ich mich auskenne. die liegen einem ja am herzen. das sind dann meist welche, über die ich auch schreibe. und ich feature die auch gern wie die hölle. dafür

      3. ich gebe durchaus zu, im rahmen dieser motivation/erörterung oft künstler/ zu verlinken, bei denen bio/rezi von mir stammen. dagegen spricht ja auch nichts. denn ich bin autor. und autoren wollen gelesen werden. egal, ob sie romane, fachbücher oder rezis verfassen. ich bin da keine ausnahme. schon vorbilder wie hunter s thompson stellten fest, dass das gute alte selbstzitat zu unrecht aus der mode gekommen ist. showbiz ist showbiz, only angebot zum entertainment, eh?....sonst hätte ich ja gleich anwalt bleiben können....

    • Vor 9 Jahren

      Und was ist mit Max Weber?

    • Vor 9 Jahren

      der ist un-diss-bar und war im betreffenden absatz natürlich nicht gemeint. :)