laut.de-Kritik
Bowies amerikanische Phase und ein "verlorenes Album".
Review von Michael SchuhWer nicht vor David Bowies Gesamtwerk mit 28 Studioalben seit 1967 kapituliert, bekommt es von der Plattenindustrie eben auf andere Weise eingeschenkt: Per Boxset. Die lästige Suche nach den Perlen fällt weg, der solvente Fan kauft einfach alles und entscheidet später, was Kunst ist und was weg kann.
Bereits vor dem Tod des Musikers im Januar 2016 waren diese auf CD und Vinyl erscheinenden, karriereumspannenden Sets in Planung. Nach "Five Years: 1969-1973" folgt nun der zweite Teil "Who Can I Be Now? (1974–1976)" über seine amerikanische Periode, und ein Schelm ist, wer tatsächlich glaubt, bei diesen vergleichsweise geringen drei Karriere-Jahren fällt auch der Inhalt sparsamer aus als zuletzt. Von wegen: Erneut zählt der verblüffte Fan zwölf CDs.
Streng genommen kamen in diesem Zeitraum zwar nur "Diamond Dogs" (1974), "Young Americans" (1975) und "Station To Station" (1976) raus, dazu noch die Livealben "David Live" (1974) und "Live Nassau Coliseum 76" (1976). Aber diese Sichtweise ist etwas verkürzt, wenn es darum geht, eine ruhmreiche und obendrein verstorbene Legende zu vermarkten. Da wird aufgebläht, was die Archive hergeben.
Und damit sind wir bei einem zentralen Verkaufsargument dieser Box: Mit "The Gouster" enthält "Who Can I Be Now? (1974–1976)" ein nie zuvor (offiziell) erschienenes 'Album' mit sieben Songs. Warum es 1974 keine reguläre Veröffentlichung wurde, sondern im Demo-Status verharrte, wussten bislang nur Bootlegkäufer. Nun wissen wir es alle. Es gibt tatsächlich Gründe, warum manche Künstler Versionen für nicht veröffentlichungswürdig erachten.
"The Gouster" wurde 1974 mit Langzeit-Freund und Produzent Tony Visconti in Philadelphia aufgenommen. Bowie brannte nach seinem stilistisch unschlüssigen Glamrock-Abschied "Diamond Dogs" lichterloh für Soul, besuchte Konzerte von den Temptations und Marvin Gaye und stellte eine Band mit Szenegrößen wie Luther Vandross für sein nächstes Projekt zusammen.
Was wir hier hören, sind Demoversionen des "Young Americans"-Albums, mit denen Bowie eine Zeit lang gut leben konnte. Aufgrund seiner zur Gewohnheit gewordenen Kokain-Abhängigkeit hatte der Sänger Ende 1974 allerdings nicht gerade den notwendigen Weitblick, wie genau sich sein Stilbruch anhören sollte (man sehe nur seinen verschnupften Auftritt in der Dick Cavett Show aus jener Zeit). Die Arbeiten begannen jeweils spät am Abend, weil er seine Gesangsspuren erst nach Mitternacht aufnehmen wollte - nachdem er hörte, dass Frank Sinatra dies auch so handhabt.
Im Vergleich zu den bekannten Albumversionen klingt "The Gouster" noch unausgegoren und zusammenhanglos. Wie ein Jam, der noch keine Antwort auf die Frage liefert, an welchen Stellen man straffen und wo man vielleicht tiefer eintauchen könnte. In "John, I'm Only Dancing" (erst 1979 veröffentlicht) übernehmen nach vier Minuten die frisch verpflichteten Backgroundsängerinnen: "Dancing, Dancing, Dancing, Woo, Woo, Woo", während David ein bisschen James Brown spielt und "You got white light, You got black light, Hey, Hey, Hey, I'm Only, I'm Only, Dancing, Dancing" herum krakeelt. bevor hintenraus alle Musiker noch ein bisschen weiterfiedeln dürfen.
"Who Can I Be Now?" klingt in den Strophen mehr nach "Hunky Dory" als nach der schwülstigen Philly Soul-Verehrung "Young Americans", im Refrain mit dem sich immer wiederholenden Titel im Chorgesang kommt dann die große Soul-Geste zum Tragen, der beste (unbekannte) Song auf "The Gouster". Die Soul-Ballade "It's Gonna Be Me" tritt dagegen sechseinhalb Minuten lang auf der Stelle, ohne einen Funken Magie zu versprühen. Das eher lustlos dahinplätschernde "Can You Hear Me?" belegt abermals an keiner Stelle den Grund für seine Boxsetintegration.
Während Tony Visconti seinerzeit mit den Masterbändern zurück nach London fliegt, um das neue Bowie-Album zu mischen, überlegt es sich dieser noch mal anders. Im Januar 1975 trifft der entwurzelte Suchende, der einst Ziggy Stardust war, in New York auf John Lennon und in ihm einen unsteten Gleichgesinnten, der aufgrund einer kurzzeitigen Trennung von Partnerin Yoko Ono auch gerade mit Vorliebe die Nächte durchmacht.
Gemeinsam covern sie den Beatles-Song "Across The Universe", in derselben Session entsteht Bowies erster US-Nummer-Eins-Hit "Fame". Kurzerhand wirft er die Tracklist um und schärft die "Gouster"-Tracks in die uns vom späteren "Young Americans"-Album bekannten Songs "Somebody Up There Likes Me", "Can You Hear Me" und "Right". So liefert das hier entstaubte, angeblich "verlorene Bowie-Album" vor allem die Erkenntnis, dass auch Bowies Genialität nicht vom Himmel fiel - oder eben, dass sie genau darin bestand, dass er so lange wartete, bis sich die Songs richtig anfühlten.
Daneben bietet das Boxset hinreichend Bekanntes: Das beste Album dieser Phase, "Station To Station", so etwas wie der Türöffner zur sich anschließenden, legendären Berlin-Trilogie ("Low", "Heroes", "Lodger"). Auch hier war Bowie noch Spielball seiner Sucht. Über die Zeit der Aufnahmen sagte er später: "Ich weiß, dass ich in L.A. war, jedenfalls habe ich das gelesen."
Das dazugehörige Livealbum "Live Nassau Coliseum 76" ist eines dieser Dokumente, die einen zwar neidisch machen, dass man selbst nicht vor Ort war. Zuhause auflegen muss man sich das aber nicht. Das Doppelalbum "David Live", seine erste Liveplatte, ist dagegen eine schöne Bestandsaufnahme seiner "The Year Of The Diamond Dogs Tour", die an zwei Abenden in Philadelphia entstand. Ebenfalls in der Box enthalten ist die 2005 veröffentlichte Remastered-Version des Albums, das aber nur aufgrund der 1974 nicht veröffentlichten Tracks "Space Oddity", "Time", "Panic in Detroit" und dem Cover "Here Today Gone Tomorrow" sowie der erstmalig korrekt abgebildeten Konzertreihenfolge erwähnenswert ist.
Abgerundet wird das Ganze mit der Obskuritäten-Compilation "Re:Call 2", die aber fern von australischen Single-Edits ("Diamond Dogs") oder US-Versionen ("Rebel Rebel") auch nicht sonderlich viel zu bieten hat. Aber das spielt letztlich vielleicht auch keine so große Rolle, denn für über 100 Euro Anschaffungspreis greifen hier wohl vor allem Leute zu, die auch Bowies Studioalben noch näher erforschen wollen. Im beigelegten Buch mit tollen Fotos und zahlreichen Interviews (u.a. Beatnik-Literat William Burroughs trifft Bowie 1974 in dessen Londoner Wohnung) wurde jedenfalls wieder alles richtig gemacht.
2 Kommentare mit einer Antwort
@don zapato: du sagst: "Das dazugehörige Livealbum "Live Nassau Coliseum 76" ist eines dieser Dokumente, die einen zwar neidisch machen, dass man selbst nicht vor Ort war. Zuhause auflegen muss man sich das aber nicht. Das Doppelalbum "David Live", seine erste Liveplatte, ist dagegen eine schöne Bestandsaufnahme seiner "The Year Of The Diamond Dogs Tour", die an zwei Abenden in Philadelphia entstand."
zustimmung zur wertschätzung von "david live". wird seit jeher unterschätzt. ein herrlich abgerockter, endzeitlicher koks-zwitter zwischen der düsternis von "diamond dogs" und dem kommenden soul.
der nassau-gig lohnt sich aber dennoch zum auflegen allemal, finde ich. abgesehen von tin machine-live klangen bowies gitarren selten so bratzig und roh wie auf dieser tour. was heyden und der ewig unterschätzte alomar hier abliefern, halte ich in seiner derbheit für sehr gelungen. besonders die "station to station"-tracks profitieren von der rauhen schale immens.
Zustimmung..das Nassau Konzert bietet einem auf jeden Fall viel hörenswertes.
"Who Can I Be Now?" und "It's Gonna Be Me" gabs auch schon regulär - als Bonustracks der CD-Reissue von "Young Americans" - zu hören.