laut.de-Kritik
Motivische Feinarbeit vs. Zitate-Reihung.
Review von Yan Vogel"Man benötigt eine gewisse Aufmerksamkeitsspanne, um ein Dream Theater-Fan zu sein", zitiert die Presseinfo John Petrucci. Auch wenn das für jede Phase der mittlerweile 25-jährigen Bandgeschichte gegolten hat, reizt man das epische und proggige Spektrum auf dem neuen Album kompromisslos aus.
Auf 75 Minuten sind sechs Songs verteilt, wobei die Ballade "Wither" und die an "Home" erinnernde erste Single "A Rite Of Passage" mit fünf bzw. acht Minuten die kürzesten Songs abgeben. Der Rest des Materials bewegt sich deutlich über der zehn Minuten Grenze und ist dem Typus der mehrteiligen Epen zuzurechnen.
Die Texte sind allesamt persönlich gehalten und decken ein großes Spektrum emotionaler Befindlichkeiten ab. Massig Vocal-Effekte und Korrespondenz von Text und Musik verstärken die vom Albumtitel auf den Punkt gebrachte ambivalente Atmosphäre und werden vom Produzenten Duo Petrucci/Portnoy sehr stimmig im Soundspektrum platziert. Die zahlreichen Instrumental-Parts teilen sich Spacekommander Rudess, der sowohl freaky und DJ-like als auch virtuos vom Leder zieht und Kniedelkönig John Petrucci, der auch auf dem neuesten Opus wieder gekonnt sämtliche Stilistiken adaptiert.
Das "Scenes From A Memory"-Kompendium "A Nightmare To Remember" schildert Petruccis Introspektion auf einen Autounfall, der sich in seiner Kindheit ereignete. Blast-Beat-Knüppeleien, düstere, Opeth-artige Harmonien, Unheil verkündende Chöre und zahlreiche Rhythmus- und Tempiwechsel lassen das fragile Gebilde der Sicherheit, die einem Kind wie ein Bollwerk vorkommt, zum Spielball schicksalhafter Bewandnisse verkommen. Programmatik wohin das Auge reicht: Der zweite Abschnitt schildert den Klinik-Aufenthalt des ramponierten Burschen unter starker Medikation. Hymnisch und balladesk gehalten, leiten gleich mehrere Gänsehautmelodien das Abdriften in ferne Sphären ein.
"The Shattered Fortress" ist eine Abrissbirne vor dem Herrn. Der Track greift die thematische Exposition von "The Glass Prison", "This Dying Soul", "The Root Of All Evil" oder "Repentance" auf und bringt eines der gewagtesten, aber letztlich beindruckensten Experimente der bisherigen Prog-Historie zum Abschluss: Das zwölf-Stufen Bewältigungsprogramms für anonyme Alkoholiker, Portnoys Selbsthilfemaßnahme und therapeutisches Schreiben gegen die Alkoholsucht – immerhin ist der Mann schon seit neun Jahren clean. Hier reizt James LaBrie das einzige Mal auf der gesamten Scheibe seinen Tonumfang aus. Ansonsten bewegt er sich in gemäßigten mittleren Lagen.
"The Best Of Times" versprüht Rush-Vibes ohne Ende. Im ersten Teil – dem Spirit Of The Radio-Teil – schwelgt Portnoy in Erinnerung an seinen im Januar verstorbenen Vater. Ein sehr stimmungsabhängiger Song – sowohl was die eigene als auch die transportierte Stimmung betrifft – und so driftet die Verwendung der musikalischen Versatzstücke hier und da in die Kitsch-Sackgasse. Schön ist der Rückbezug in der zweiten Songhälfte auf die im Intro zuerst von einer Geige und dann einer Gitarre gespielten Melodie.
Die Geschichte über den Graf aus der Toskana ("Count Of Tuscany") versetzt den Hörer in alles überstrahlende Glückmomente, nur um ihn im nächsten Moment auf den Seziertisch zu verfrachten und allerlei Negativ-Emotionen freizulegen. Hier tischen Dream Theater ihre 70er-Referenzen auf und lassen diese wie auf "Octavarium" in vollem und abwechslungsreichen Glanz erscheinen: Rockige-Riffs, weirde Synthie-Motivik, ein typischer Rudess-Atmo-Rubato-Alleingang in der zweiten Songhälfte und ein furioser Schlusspart, der in seiner Dynamik an "Learning To Live" erinnert. Dass alles stimmig klingt, verdankt die Band nicht zuletzt ihrem Rückgrat, John Myung. Der schweigsame Bassist spielt einen gleichsam anspruchsvollen wie songdienlichen Tieftöner, ohne an die grenzenlosen Egos der Saiten- und Keyboard-Fraktion heranzureichen.
Nach dem bahnbrechenden Opus Magnum "Scenes From A Memory" zog die Band auf den folgenden Alben einen engeren Rahmen. Füllte der konzeptuelle Anteil auf "Six Degrees Of Inner Turbulence" mit dem gleichnamigen Titelstück noch eine ganze CD-Seite, bewegte man sich auf dem folgenden "Train Of Thought" an den Grenzen der – für Dream Theater-Verhältnisse – machbaren Härte. "Octavarium" und "Systematic Chaos" boten zwar streckenweise epische Breite, bewegten sich mit unverkennbaren Muse-Analogien und kürzeren Spielzeiten des Gros' der Songs in mainstreamigeren Gefilden.
Opener und Schlussstück mit ihrem cineastischen Anstrich sowie die in Musik gegossene Trauerbewältigung "The Best Of Times" wachsen immerhin mit jedem Durchlauf; hier ergibt die Metaphorik des Albumtitels richtig Sinn. Einen Vorwurf muss sich die Band aber gefallen lassen. Auch wenn Zitate und die Anlehnung an die großen epischen Songs das Konzept während des Songwriting-Prozesses darstellten, steht fast jeder Song im Schatten eines "großen Bruders" - ob man dies am Ende als Selbst-Plagiat oder Trademark auslegt, ist wohl Geschmacksfrage.
52 Kommentare
Habs noch nicht gehört, werds mir aber in näherer Zeit kaufen.
Exzellente Kritik! Sehr ausgewogen und spricht alles Wichtige an. Gut, dass ihr den Edele nicht drangelassen habt. Der hätte das Ding wieder uneingeschränkt abgefeiert.
Ja aber die Review ist schon irgendwie lieblos. Ähnelt irgendwie eine Sachbeschreibung aus der Schule
Äh, Rick Rubin hat aber nur Death Magnetic produziert. St. Anger war Bob Rock.
mal abgesehen davon das metallica eben mit bob rock auf massentauglichkeit schielten, nicht mit rubin. st.anger war mit seinem rumpelsound und viel zu langen songs auch nicht gerade radiotauglich...bezüglich cheesigen radiotauglichen balladen sind dream theater mit metallica mindestens gleich auf.
@videodrone (« mal abgesehen davon das metallica eben mit bob rock auf massentauglichkeit schielten, nicht mit rubin. st.anger war mit seinem rumpelsound und viel zu langen songs auch nicht gerade radiotauglich...bezüglich cheesigen radiotauglichen balladen sind dream theater mit metallica mindestens gleich auf. »):
St. Anger war ein krampfhafter Versuch wieder dreckig und wild zu sein um das angekratzte Image wieder zu korrigerien. Nur wirkte das ziemlich aufgestülpt und wurde u.A. deshalb von vielen Fans abgelehnt. Death Magnetic finde ich wiederum sehr geil und entschuldige mich hier Rick Rubin mit Bob Rock verwechselt zu haben. Produzenten machen bei vielen Bands schon Sinn. Bei Band im Kaliber von Metallica oder DT finde ich Produzenten überflüssig, da der Sound häufig verwässert wird um einem Image gerecht zu werden oder eben radiotauglich zu sein. Die Liste der Bands deren Musik darunter litt könnte man hier weiterführen..
Und by the Way: Liquid Tension Eyperiment war ja ein kreativer Befreiungssschlag von DT, da sie hier die Möglichkeit hatten ohne jeglichen Einfluss von irgendwelcher Seite Musik zu machen und auch sehr experimentele Sachen auszuprobieren. Das Resultat war absolut genial- diesen Mut sollten wieder mehr Bands zeigen.