laut.de-Kritik
Die "White Queen Of Soul" riss Scheuklappen nieder.
Review von Sven KabelitzGanz tief durchatmen, jetzt. Ruhig Blut und erst einmal hinsetzen. Cliff Richards nannte Dusty Springfield einst "die weiße Negerin". Ein Beiname, so töricht und rassistisch, dass man ihn heute eigentlich unter den Tisch fallen lassen sollte. Dass Richards solches über die Lippen ging, ohne einen #aufschrei loszutreten, und dass Medien diese Bezeichnung sogar freundlich aufgriffen, verdeutlicht nur zu gut, in welch anderen Zeiten Mary Isabel Catherine Bernadette O'Briens Karriere startete. Das weiße Spießertum gab strenge Grenzen vor. Von Anfang an setzte sich die "White Queen Of Soul" über diese hinweg.
Während in Irland, dem Geburtsland ihrer Mutter, Frauen erst ab 1970 in Pubs trinken und den Sex mit dem Ehemann nicht verweigern durften, prügelte sich Dusty mit mit dem Jazz-Schlagzeuger Buddy Rich, trat als erster Interpret überhaupt bei "Top Of The Pops" auf und outete sich bereits 1970 als bisexuell. In vielem war sie ihrer Zeit meilenweit voraus. Die Schnee-Eule des Souls legte den Grundstein für den Erfolg der heutigen Sängerinnen-Generation rund um Adele, Lana Del Rey und Duffy.
Dabei war Mary ein schüchternes und zurückhaltendes Mädchen. Es fehlte ihr an Selbstbewusstsein und an Vetrauen in die eigene Stimme. Ihre Zweifel versteckte sie unter den legendären Frisurtürmen und dem Mascara der Kunstfigur Dusty Springfield. Von nun an lebte sie im Zwiespalt zwischen Marie/Dusty und Dusty/Marie. Obwohl sie im Studio über die Produktion herrschte und Musiker nach Belieben austauschte, spielte sie nach außen hin das unbedarfte Mädchen und ließ sich erst auf ihrem neunten Album als Produzentin vermerken. "Ich dachte, Credits in Anspruch zu nehmen wäre nicht förderlich für meine Glaubwürdigkeit als kleine, unschuldige Sängerin."
Dustys Einfluss auf die populäre Musik kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Dennoch wird er noch heute allzu oft übersehen. Für viele bleibt sie nur die divenhafte Engländerin mit der Panda-Schminke. Doch während die Beatles Amerika im Sturm eroberten, schwappte der schwarze Soul-Sound nach England. Als Vorreiterin der 'Motown-Invasion' ersann und moderierte sie ein "The Sound Of Motown"-Spezial der Musikshow "Ready, Steady, Go!".
Erstmals stellte sie dort dem Publikum ihre Idole vor, deren Stil sie in ihrem eigenen Gesang und ihrem Sound aufgriff. Die Hits der Temptations, Smokey Robinsons, Stevie Wonders und The Supremes bekamen vom einen Augenblick auf den nächsten Gesichter. Seite an Seite mit Martha Reeves And The Vandellas sang die "White Soul Queen" ihren aktuellen Hit "Wishin' And Hopin'". Zu Zeiten massiver rassistischer Vorbehalte und sechs Jahre bevor in Amerika Don Cornelius mit seinem "Soul Train" die schwarze Bevölkerung ins TV brachte, riss Dusty damit Scheuklappen von den Köpfen der Engländer.
Auch abseits des Souls hinterließ sie Spuren. In einer Folge ihrer TV-Show "It Must Be Dusty" sang sie gemeinsam mit Jimi Hendrix das Stück "Mockingbird". Während der Aufnahmen zu "Dusty In Memphis" besuchte sie ein Konzert der neuen Band des Mannes, der auf dem Vorgänger "Dusty ... Definitely" für Bass und Arrangements zuständig gewesen ist. Begeistert von John Paul Jones' Auftritt mit dessen neuer Gruppe Led Zeppelin schlägt sie selbige Jerry Wexler vor, einem der Hauptverantwortlichen bei Atlantic Records. Nur aufgrund dieser Empfehlung und ohne die Band je live gesehen zu haben, nimmt er Led Zep gemeinsam mit Ahmet Ertegun unter Vertrag.
In der Blütezeit ihrer Karriere brachte es Dusty auf zahllose grandiose Momente. Mit dem steinerweichenden "You Don't Have To Say You Love Me" erreichte sie in ihrem Heimatland die Spitze der Charts. 1967 sang sie für die Bond-Parodie "Casino Royale" den Titelsong "The Look Of Love". Zu ihrem Bacharach-Hit "I Just Don't Know What To Do With Myself" ließen die White Stripes viele Jahre später Kate Moss um eine Stange tanzen. Ihre herzzerreißende Performance in "If You Go Away", der englischen Version von Jacques Brels "Ne Me Quitte Pas", rührt noch heute zu Tränen. Mit "Spooky" nimmt sie 1968 die Entwicklung in Richtung "Dusty In Memphis" voraus. Egal, was sie auch in die Finger bekam, Dusty Springfield konnte alles singen und zu ihrem eigenen Song formen. Doch ein Album aus einem Guss sollte sie erst im März 1969 veröffentlichen.
Für "Dusty In Memphis" gab sie die Produktion erstmals nach dem enttäuschenden "Where Am I Going?" komplett aus ihren Händen. Um den gewünschten Sound zu erhalten, übernahmen Jerry Wexler, Arif Mardin und Tom Dowd als Toningenieur die Produktion. Mit Gitarrist Reggie Young, Bassist Tommy Cogbill, den Backgroundsängerinnen der Sweet Inspirations sowie der Band Memphis Cat spielte das A-Team von Atlantic Records die Platte ein.
Doch von den vorab aufgenommenen achtzig Songs, die ihr Wexler vorschlägt, akzeptiert sie keinen einzigen. Erst die darauf folgenden zwanzig finden Gnade. Dazu gehören Nummern aus den Federn von Carole King, Gerry Goffin, Barry Mann, Cynthia Weil, Eddie Hinton, Burt Bacharach und dem noch am Anfang seiner Karriere befindlichen 'singenden Busch' Randy Newman.
Nach wie vor bleibt sie selbst ihre härteste Kritikerin. Ihr Vertrauen in die Möglichkeiten ihrer Stimme war nie sonderlich hoch. Ihr Leben lang wollte sie Aretha Franklin sein. Als sie sich schließlich am selben Ort mit den gleichen Produzenten und Musikern wiederfand, mit denen ihr Idol aufnahm, brachte sie aus Angst vor dem direkten Vergleich keinen Ton heraus. Ihre Vocals sang sie später in New York ein. "Es war eine lähmende Erfahrung. Ich brauchte lange, um mich davon zu befreien, aber heute mag ich das Album", erinnert sich die Sängerin in einem Interview mit dem Mojo-Magazin im Jahr 1995.
"Dusty besaß ein fragiles Temperament und war eine sehr zartbesaitete Frau. Sie fühlte sich in Memphis nicht wohl. Aber die Leistung, die sie letztendlich in New York ablieferte, war unglaublich. Sie hatte ihre eigene Magie, eine Qualität, die sich weder aus R'n'B noch Jazz speiste. Ich weiß nicht, wie ich es charakterisieren soll. Wenn man normalerweise sagt, etwas klingt zu weiß, zu Vanilla, will man damit ausdrücken, dass Seele oder Leidenschaft fehlen. Aber bei Dusty war das anders. Sie war die Inkarnation der weißen Soul-Queen", erinnert sich Jerry Wexler an die Aufnahmen und die anfänglichen Schwierigkeiten.
Alle gemeinsam schufen eine zu dieser Zeit ungehörte radikale Kreuzung. Ein Halbblut zwischen weißer Pop-Musik und schwarzem R'n'B. Ein Longplayer, den man hundertmal hören kann, und beim hundertersten immer noch eine neue Facette entdeckt. Während mit Velvet Underground und The Doors die rebellische Jugend dem schönen Engel Musik nach und nach die Federn aus den Schwingen zupfte, zelebrierte Dusty noch einmal dessen unschuldige Anmut und Grazie. Sinnlich und intim hebt sie ihre Stimme auf ein neues Level.
Über allem steht "Son Of A Precher Man", mit dem 1994 Vincent Vega, Mia Wallace und Quentin Tarantino "Dusty In Memphis" an eine neue Generation heran tragen. Im Jahr zuvor sampelten Cypress Hill das Lied für "Hits From The Bong". Von der Predigertochter Aretha Franklin als despektierlich abgelehnt, entwickelt sich der Track zu einem von Dustys Markenzeichen. Ihre Londoner Vergangenheit hatte sie abgelegt und schleicht stilvoll über Memphis-Funk durch die pikante Geschichte: mit seinem fesselnden Arrangement und den brillant platzierten Bläsern ein kleines Gesamtkunstwerk des Blue Eyed Soul. Der perfekte Moment, in dem Weiß auf Schwarz trifft, ohne in langweiliges Grau abzudriften.
Gleich zu Beginn von "Dusty In Memphis" reckt und streckt "Just A Little Lovin'" seine Glieder in die ersten Sonnenstrahlen des Tages. "Just a little lovin' early in the morning / beats a cup of coffee for starting off the day." Dusty umschmeichelt jede Textzeile, während sie leichtfüßig durch den liebestrunkenen Dreivierteltakt tänzelt. Sie zelebriert die große Kunst, einen kompliziert zu singenden Track wie das einfachste Unterfangen der Welt klingen zu lassen.
Doch wie so oft endet alles mit der Ballade "I Can't Make It Alone" in bitteren Tränen. "I'm begging you / Won't you reach out for my dying soul?" Wer sich die Mühe macht, auf die Texte zu achten, sollte Taschentücher bereit halten. Unter der edlen Oberfläche verbergen sich mehr als einmal Geschichten über unerwiderte Liebe, dornenreich dargeboten. Treffsicher findet Dustys Stimme die schmerzende Stelle, kitzelt Tränen und Gänsehaut hervor.
"You've been cryin' / Your face is a mess / Come in baby / You can dry the tears on my dress / She's hurt you again / I can tell." "Breakfast In Bed" nervte 1988 als unsägliches Pop-Reggae-Cover von UB 40 und Chrissie Hyde. Doch das von Dusty vorgebrachte Original der Eddie Hinton/Donnie Fritt-Komposition zeigt sich meilenweit von dieser Aufdringlichkeit entfernt. Im Arrangement nah an "Son Of A Preacher Man", spielt es mehrfach geschickt mit der Textzeile "You don't have to say you love me". Über einen eleganten Groove verbreitet die Sängerin eine Mixtur aus Verletzlichkeit und Sehnsucht. "Pull your shoes off, lie down / And I will lock the door / And no-one has to know / You've come here again / Darling it will be / Like it's always been before."
Das Bacharach-Stück "In The Land Of Make Believe" spiegelt mit seiner elektrischen Sitar den Zauber der damaligen Zeit. Randy Newman, später einer der populärsten Songwriter Amerikas, macht mit "Just One Smile" und der ungewöhnlichen und doch so alltäglichen Geschichtete in "I Don't Want To Hear It Anymore" auf sich aufmerksam. Durch die dünnen Wände ihrer billigen Absteige hört die Protagonistin den neusten Klatsch der Nachbarschaft über ihren Liebsten. "Ain't it sad, said the woman down the hall / That when a nice girl falls in love / Ain't it just too bad that she had to fall / For a boy who doesn't care for her at all?"
Mittlerweile dürfte "The Windmills Of Your Mind" wohl zu den meistgecoverten Stücken gehören. Vom Franzosen Michel Legrand geschrieben, schaffte er seinen Durchbruch in der englischen Noel Harrison-Version im 1968er Film "The Thomas Crown Affair". Mit dessen gleichförmiger Interpretation hat Dustys theatralischer Ritt nur wenig gemein. Schritt für Schritt steigert sich das Arrangement. Gerade in der ersten Hälfte klingt dieser außergewöhnliche Song, der mit psychedelsichen Elementen und Bossa Nova-Anleihen beginnt, höchstens bei den Muppets besser. Wie Don Quijote kämpft Dusty gegen die haarscharf am schmerzhaften Kitsch vorbei kratzenden Streicher an. Eine überspitze Interpretation, die in ihrem letzten Drittel dem Wahn sämtliche Türen öffnet.
Bei all seiner Raffinesse fand "Dusty In Memphis" dennoch erst mit der Zeit seine Fans und Anerkennung. 1969 stellte das Album auf beiden Seiten des Atlantiks ein kommerzielles Desaster dar. Gemeinsam mit ihren Selbstzweifeln und den Folgen ihres Outings geriet Dusty in eine Abwärtsspirale, die Alkohol- und Kokainabhängigkeit und ein Selbstmordversuch begleiteten. Immer weniger Platten erscheinen, die Qualität ihrer Live-Auftritte lässt zunehmend nach.
In den Achtzigern veröffentlicht sie mit "White Heat" gerade einmal ein Album, und dies nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit - bis die Pet Shop Boys 1987 für "What Have I Done Do Deserve This?" von ihrem "Actually"-Album bei ihr anklopfen. "Dusty nimmt sich deines Liedes an und zaubert daraus etwas zehnmal Besseres", erinnert sich Neil Tennant an die gemeinsamen Aufnahmen.
Mit der Hilfe des Pop-Duos veröffentlicht Dusty 1990 das Album "Reputation", feiert mit den Singles "In Private" und "Nothing Has Been Proved" ein fulminantes Comeback. Nach der langen Durststrecke wieder zurück im Sattel, erfährt sie nach den Aufnahmen zu "A Very Fine Love" von ihrer Brustkrebserkrankung. "Ich erinnere mich, dass ich weinen musste. Ich habe doch jetzt keine Zeit, um krank zu sein, dachte ich bei mir", erzählte sie später.
Ein langer Kampf beginnt, den sie letztendlich verliert. Am 2. März 1999, einen Tag, bevor sie aus der Hand von Queen Elisabeth II. den Order Of The British Empire erhalten sollte, stirbt sie im Alter von 59 Jahren. Zehn Tage nach ihrem Tod wird sie in die Rock And Roll Hall Of Fame aufgenommen. Die New York Times schreibt, die Welt habe "die beste Pop-Sängerin, die Großbritannien je hervorgebracht hat" verloren. Im Booklet des 2000 erschienenen "Simply ... Dusty"-Boxsets widmet ihr Annie Lennox ein Gedicht:
"Listen / Now / Dusty is singing / Colouring / The drab evening / Once again / In sparkle gown / Perfection / Spinning / Impossible / Arcs of vibrato / Through / Smouldering / Waves / Of Invisible Sound / Listen / Now / Dusty is singing."
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
9 Kommentare
tl;dr
Wow. Danke Sven. Tolle Platte, die ich schon fast vergessen hatte. Wann machst du Nina Simone?
Fantastische Review, danke!
Nach der Rezi werde ich mal reinhören
Persönlich würde ich momentan zu "Nina Simone at Town Hall" tendieren. Aber vor einem Nina Simone-Text habe ich schon ein wenig Angst.
Bros habe ich schon fertig, hebe es mir aber als finales Meisterwerk auf, das erst kurz nach meinem Ableben veröffentlicht werden soll.
Dieser Kommentar wurde vor 3 Jahren durch den Autor entfernt.