laut.de-Kritik

Gelangweilt an die Chartsspitzen der halben westlichen Welt.

Review von

Was würde er heute machen, wenn er in den frühen 80er Jahren nicht auf Chris Lowe getroffen wäre, wurde Sänger Neil Tennant einmal gefragt. Antwort: "Vielleicht wäre ich Redaktionsleiter beim Q Magazine". Eine naheliegende Vermutung, denn vor seiner heutigen Berufung stand der Sänger bei der Musikzeitschrift "Smash Hits" in Lohn und Brot.

Doch als sich sein großer Traum, eine Single mit dem New Yorker Hi-NRG-Produzent Bobby O. (The Flirts) aufzunehmen, gleich 1984 erfüllte, hatte er genug Selbstvertrauen und kündigte im Folgejahr seinen Journalistenjob, "um Popstar zu werden". Tennants Mutter traute ihren Ohren nicht und seine Ex-Kollegen sparten nicht mit Spott.

Er würde "in Demut auf Knien zurückgekrochen" kommen, hieß es. Auch das eine naheliegende Vermutung. Und Tennant tat ihnen den Gefallen, er blieb den Redakteuren jahrelang eng verbunden, allerdings nicht als Kollege, sondern als Magazininhalt neben Duran Duran, Wham! und Spandau Ballet. Maßgeblichen Anteil daran hatte "Actually", das die selbst auferlegte Hürde nach dem "Please"-Erfolg mit einer bis heute beängstigend souveränen Leichtigkeit nahm. Alle vier ausgekoppelten Singles landeten weltweit an der Spitze, mit "Always On My Mind" gesellte sich Ende 1987 kurzerhand noch ein Non-Album-Track hinzu.

"Damals hatte ich wirklich das Gefühl, dass wir das Geheimnis zeitgenössischer Popmusik entdeckt hatten", brachte Tennant Jahre später die Errungenschaften dieses großen Albums fast schon wehmütig auf den Punkt. Er dürfte nicht alleine mit der Frage sein, wie zur Hölle seine Band das bloß schaffen konnte.

Ein Geheimnis lag sicher in der Kombination, eingängigen Synthie-Pop zu produzieren, der auf den ersten Blick ausschließlich für den Charteinstieg geschaffen schien, diesen dann aber mit Texten, Videos und Bildern zu unterfüttern, deren Komplexität auch ein intelligenteres Publikum ansprach. Die Unvereinbarkeit von Pop und Kunst war den Pet Shop Boys stets ein Dorn im Auge. "Actually" räumte mit diesem Vorurteil grundlegend auf.

Das Cover deutete es schon an: Hier lief etwas komplett anders. Keine Popgruppe verzichtete damals auf erdrückende Schriftzüge und knallbuntes Artwork-Design. Außerdem galt es als ungeschriebenes Gesetz, dass Popstars passend zu ihren Throwaway-Tunes gefälligst dümmlich zu lächeln haben. Als nicht verkaufsfördernd wurde es dagegen angesehen, wie etwa Chris Lowe den Eindruck einer bevorstehenden Wurzelbehandlung zu vermitteln.

Ein gähnender Sänger war da nur die Spitze der Provokation, mal davon abgesehen, dass man sich nicht nur in Amerika kaum etwas Unhipperes vorstellen konnte, als dass sich Popstars in Frack und Fliege ablichten lassen. Für die Pet Shop Boys gehörte es zum Stilmittel, Distinktion zum Konzept.

Sie verweigerten sich vorgefertigten Schablonen, in den Texten feierte Tennant die Trivialität des alltäglichen Lebens, den verregneten Straßen und der Langeweile. Und sie lachten sich ins Fäustchen, wenn der Subtext ihrer Botschaften inmitten der infektiösen Disco-Beats übersehen wurde. So tanzte Ende 1987 die halbe westliche Welt zu einem Song, der Tennants katholische Schuldgefühle aufarbeitete ("It's A Sin").

Es ist vor allem Lowes Genie zuzuschreiben, wie perfekt diese Illusion gelang: Mit Hilfe von Studio-Programmierern, die das extravagante "Relax" von Frankie Goes To Hollywood zu verantworten hatten, schuf er einen geradezu maßlosen Elektro-Popsong, der wie der Soundtrack zu einem opulenten Kostümfilm daherkam. Praktisch, dass sich mit Derek Jarman ein Avantgarde-Künstler auftreiben ließ, dem genau so ein Setting für den dazugehörigen Videoclip vorschwebte.

Zu Beginn des Albums trifft man jedoch überraschend auf einen alten Bekannten als Co-Songwriter: "One More Chance" stammte noch aus den New York-Sessions mit Bobby O., mit dem man nach Vertragsuneinigkeiten zugunsten von Parlophone/EMI brach. Der überraschend kalte Albumauftakt klingt mit der endlosen Percussion-Schleife inklusive gesampletem Reifenquietschen wie ein Extended Mix, jenem Genre also, dem die Gruppe im Vorjahr auf "Disco" ausgiebig huldigte. Im Vergleich zu seinem üblicherweise gelangweilten Vortragsstil klingt Tennant bei Zeilen wie "Push me in a corner and I'll scream" geradezu aufgewühlt und gehetzt.

Das spielerische "What Have I Done To Deserve This?" bescherte der seinerzeit völlig abgemeldeten 60s-Ikone Dusty Springfield einen zweiten Frühling, die dadurch ähnlich wie Johnny Cash einen neuen Karriereschub erlebte. Das roboterhaft drückende "Shopping" zeugte wiederum von der vollkommenen Verinnerlichung des Bobby O.'schen Erfolgsprinzips "It's the bass that makes the hit".

Wie man tragische Themen in waidwunde Melancholie-Dramen einkleidet, erfuhr man schon in "Suburbia", doch "Rent" schien auch hier noch mal einen Schritt weiter zu gehen. Im Grunde genommen ein Liebeslied ("Words mean so little, money less / when you're lying next to me"), geißelt der Song ähnlich wie "Shopping" die vorherrschende Konsumsucht des Thatcher-Jahrzehnts und beleuchtet kulminierend in der bösartigen Refrainzeile "I love you / You pay my rent" fade Kompromisse, die aus Abhängigkeiten entstehen können.

"Hit Music" entstand zwar mit demselben Equipment wie die vorangegangenen Songs, kann die Herkunft seines Jahrzehnts aber am schlechtesten verschleiern, was sicher auch an den von Lowes übertrieben oft eingesetzten Orchesterschlägen liegt. Es folgt mit "It Couldn't Happen Here" nichts weniger als eine Blaupause für sämtliche künftigen PSB-Balladen ("Jealousy", "Do I Have To").

Gemeinsam mit Filmmusik-Komponist Angelo Badalamenti, den das Duo nach Ansicht des Lynch-Streifens "Blue Velvet" begeistert engagierte (und dessen Nachnamen sie auf gleich zwei LPs hintereinander falsch abdruckten), entstand eine rührendes, theatralisches Meisterwerk, in dem Tennant der grassierenden Anti-Homosexuellen-Rhetorik der damaligen Zeit beherzt die Stirn bot. Es verwundert nicht, wenn man erfährt, dass beim himmelsstürmenden Refrain auch Zeremonienmeister Ennio Morricone seine Finger im Spiel hatte.

"Heart" wurde urspünglich für Madonna geschrieben, ihr aber nie vorgestellt. Nun, die Amerikanerin wurde trotzdem nicht zum Sozialfall. Mit "If I didn't love you, I would look around for someone else" enthält der Song einen weiteren Beleg für Tennants trockenen Humor, bevor "King's Cross" dem viktorianischen Londoner Bahnhof ein Denkmal setzt, an dem tagtäglich Millionen Menschen aus unterschiedlichsten Schichten aufeinander prallen. Welch gelungenes Abschlussbild.

"Actually" legte den Grundstein für die weitere Karriere der Gruppe, die ihnen ein weitreichendes Fan-Lager von Kompakt-Chef Wolfgang Voigt bis hin zu Las Vegas-Sängern wie Brandon Flowers bescherte. Bald waren sie niemandem mehr eine Erklärung schuldig, etwa warum sie keine Gitarren benutzten (was sie später taten). Chris Lowes Interviewzitat von damals fasst "Actually" bis heute perfekt zusammen: "Ich mag Country und Western nicht, ich mag Rockmusik nicht, ich mag auch kein Rockabilly. Es gibt eigentlich nicht viel, was ich mag. Aber das was ich mag, liebe ich leidenschaftlich."

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. One More Chance
  2. 2. What Have I Done To Deserve This?
  3. 3. Shopping
  4. 4. Rent
  5. 5. Hit Music
  6. 6. It Couldn't Happen Here
  7. 7. It's A Sin
  8. 8. I Want To Wake Up
  9. 9. Heart
  10. 10. King's Cross

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