laut.de-Kritik
Kontrastreich, verwirrend und dennoch wegweisend.
Review von Kai ButterweckWer Anfang der Neunziger dachte, dass das aufstrebende Crossover-Genre mit dem Red Hot Chili Peppers-Meisterwerk "Blood Sugar Sex Magik" bereits seinen Höhepunkt erreicht hatte, der rieb sich mit Erscheinen von "Angel Dust", dem vierten Streich von Faith No More, kräftig die Augen.
Bereits auf dem Vorgänger "The Real Thing" boten die fünf Kalifornier um Ausnahme-Entertainer Mike Patton eine "unknackbare" Nuss für die Scheuklappen tragende Musiker-Polizei. Mit "Angel Dust" setzen die Branchen-Pioniere ihrem Klang-Treiben die Krone auf und huldigen ihrem Genre mit Ausflügen auf musikalische Nebenwege, von denen viele bis dahin gar nicht wussten, dass es sie gibt.
Von Mike Pattons verstörendem Gelächter beim Opener "Land Of Sunshine", über eine Horde wildgewordener Cheerleader, die sich auf "Be Aggressive" ihre weichgespülten Uniformen vom Leib reißen und derben Körperkontakt predigen, bis hin zum schunkelnden Piano-Szenario "RV" verteilt die Band schallende Ohrfeigen im Minutentakt.
Den aufkommenden Druck, der nach dem Durchbruch "The Real Thing" entstanden war, tritt das Quintett mit Füßen und beugt sich auf "Angel Dust" weder der kommerziellen Industrie-Maschinerie noch dahergelaufenen Mode-Fans, die sehnsüchtig auf einen "Epic"-Nachfolger gewartet hatten.
Die erste Single "Midlife Crisis" kommt dem Airplay-Gedanken noch am Nächsten und entwickelt sich über die Jahre zum zeitlosen Song-Eckpfeiler einer ganzen Sub-Generation. Melodiöse Ansätze und opulente Refrains wie auf "Everything's Ruined", oder auch "A Small Victory", stehen im Kontrast zu sperrigen Sound-Gewittern der Marke "Malpractice" oder "Jizzlobber", zwei Songs, die sinnbildlich für die Attitüde der Band stehen gegen den Strom zu schwimmen.
Während das Album mit jedem weiteren Song eine verstörende subtile Aggressivität aufbaut, endet es erwartungsgemäß mit dem Unerwarteten. "Midnight Cowboy" umhüllt die ganze vorangegangene Symbiose aus laut und leise, schwarz und weiß in ein zuckersüßes und episches Gewand aus Einfachheit und Harmonie.
Genau wie die Musik sprechen auch die lyrischen Ergüsse von Mike Patton auf "Angel Dust" eine eigene Sprache. Zitate aus chinesischen Glückskeksen wechseln sich ab mit Fellatiobeschreibungen und düsteren Visionen menschlicher Lebensphasen.
Die Band performt sich in einen Rausch aus künstlerischer Freiheit, dargeboten in Form von wilden Gitarren-Riffs, skurrilen Samples und der unvergleichlichen Flexibilität des Stimmorgans von Sänger Mike Patton, der spielend leicht zwischen urbaner Schrei-Kavallerie und operettenhafter Epik hin und her pendelt.
Dieses Talent hatte der Frontmann bereits auf "The Real Thing" angedeutet. Drei Jahre zuvor klang er aber phasenweise noch wie ein hibbeliger Teenie, der sich seiner Gesangsfähigkeiten noch gar nicht bewusst war. Wie ein Stimm-Chamäleon präsentiert er auf Songs wie "Crack Hitler" oder "Kindergarten" seinen gereiften Facettenreichtum und drückt dem Album und letztlich auch der Band mit diesem Schaffen seinen unvergleichlichen Stempel auf.
Der Wahnsinn hat auf "Angel Dust" Methode und dennoch besticht das Album als Ganzes vor allem aufgrund seiner Homogenität. Was zunächst widersprüchlich klingt, offenbart sich spätestens beim dritten oder vierten Durchlauf, wenn sich all die musikalischen Gegensätze langsam vereinen und ein Gesamtkunstwerk entstehen lassen, welches seiner Zeit um Jahre voraus war.
Der komplexe und abstrakte Inhalt zeichnet sich bereits durch das Cover-Artwork ab. Dem majestätischen Reiher auf der Vorderseite steht ein apokalyptischer Schlachthaus-Schnappschuss auf der Rückseite entgegen. Kontrastreich, verwirrend und dennoch unvergleichlich anziehend. Genau wie der Inhalt.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
38 Kommentare
Unglaublich starke und durchgeknallte Platte!!! Nix gegen RHCP, aber FNM waren schon immer die bessere und interessantere Band. Mike Patton ist eh mindestens ein Halbgott.
Ich denke ohne solche Alben würde es heute Bands wie SOAD oder Dillinger Escape Plan gar nicht geben.
Nur eine Frage: wieso wird hier Easy nicht aufgeführt? Nicht, dass es einer der besten Songs ist (ist ja auch "nur" ein Cover), aber auf meiner eigenen Ausgabe ist es mit drauf...
@TanteAli:
"Easy" wurde erst auf das Re-Release Anfang 93 mit draufgepackt.
Alles was in den darauf folgenden 1-2 Jahrzehnten den Fans als Crossover Metal und Nu Metal verkauft wurde, hatte Faith No More auf diesem Album (und dem Vorgänger-Meisterwerk "The Real Thing") mit wenigen Songs abgehandelt.
Und dazu noch ein paar andere geniale Stücke draufgepackt.
@ unorigineller Name: Da entgeht dir was. Dazu ist Zorns Saxophon viel zu sexy und Ribots Gitarrenspiel auf den späteren Alben viel zu tight.
Zieh dir das einfach mal rein (auch wenn der Song etwas aus den Zorn´schen Rahmen fällt):
http://www.youtube.com/watch?v=nlftvyB4mUo
@toni
ja, hört sich gut an.
ich meinte aber die "hemophiliac". die überschreitet meine krachtoleranzschwelle. dagegen sind die fantomas-platten und die anderen mir bekannten von john zorn bzw. naked city (naked city, grand guignol und ein ganzer arsch voll OSTs) ja easy listening.
hier zwei coole fanvideos zu pink cigarette und retrovertigo von mr. bungle. das erste erinnert mich an hitchcock und an last cup of sorrow, das zugleich das erste war, was ich von fnm wahrgenommen habe.
(außer epic und we care a lot, die damals öfter mal auf mtv liefen. aber das war alles ein paar jährchen bevor ich über die verbindung melvins-fantomas zum mike patton fan wurde)
http://www.youtube.com/watch?v=TwWQYg7aS5o
http://www.youtube.com/watch?v=DRyh2cxJCp0
The real Thing finde ich zwar noch `meiliger`,aber gute Wahl!!