laut.de-Kritik

Menschen Leben Welt.

Review von

Am 6. April 2017 nimmt Jan Böhmermann in seinem Neo Magazin Royale den Deutschen Chartpop ins Visier. Sein Hauptziel Max Giesinger steht sinnbildlich für die Welle aalglatten Weichspülpops, die seit einem Jahrzehnt den Hörgenuss aus den deutschen Charts saugt. Der Musiklehrer hat uns den Beitrag im Unterricht gezeigt. Mein damaliges Urteil: Jan Böhmermann hat ein ganzes Genre mit einem Streich beendet, im Battlerapjargon spricht man von einem "Bodybag", davon erholt man sich nicht. Wie naiv ich doch war. Denn wie kann etwas sterben, das nie eine Seele besessen hat?

Jan Böhmermann hat im Rahmen seiner Sendung vier Schimpansen bei der GEMA angemeldet. Ihnen warf er dann Kärtchen mit Kalendersprüchen, Werbeslogans, Zeilen aktueller Popsongs sowie Tweets von BibisBeautyPalace und Sami Slimani in den Käfig, aus denen die Affen den Text für "Menschen Leben Tanzen Welt" bastelten, den Böhmermann dann als 'Jim Pandzko' performt. Der Titel basiert auf der These, dass diese vier Worte lächerlich oft in dieser Art von scheinemotionaler Musik fallen. Das "Tanzen" gönnt Florian Künstler mir leider nicht fürs Böhmermann-Bingo. Dass "Du Bist Nicht Allein" aber schon mit der Tracklist drei von vier Begriffen abhakt, sagt wirklich alles über das Album, was ihr wissen müsst.

Über sieben Jahre später steh ich also vor dem Endgegner der große-Gefühle-und-doch-intim-aleh-oop-Musik. Und was für ein widerspenstiger Gegner sie ist, steht immer einmal mehr auf als sie am Boden liegt - heyyy Weil Liebe ist stärker als Hass - hoooo. Jetzt kommt mir die undankbare Aufgabe zu, ein freies Stückchen am Kadaver zu finden, der noch nicht durchgedroschen ist, und glaubt mir, wenn ich das finde, dresche ich von Herzen gerne mit.

Eine deutlich dankbarere Aufgabe ist hingegen, euch ein Bild vom Klang der Platte zu zeichnen. Hört kurz in einen beliebigen Track rein und ihr wisst ganz genau, was abgeht. Ergriffene Kalendersprüche, seichte Drums, uninspirierte Chordprogressionen auf Gitarre und Klavier, ein eeeh-ooop Chor in der Hook, das geht ab.

Aufgrund fehlender masochistischer Tendenzen hab ich nur ab und an mit halbem Ohr in der Öffentlichkeit aufgeschnappt, wie es dem weinerlichen Floskelpop gerade so geht. Vielleicht sind mir ein, zwei Standartwerke durch die Lappen gegangen, daher gibt's keine Einordnung im Genre. Aber scheinbar herrscht an dieser Front absoluter Stillstand.

Komischerweise braucht Florian Künstler eine Armee von 20 Songwritern, um seine Sammlung höchstpersönlicher Balladen zusammenzustellen. Und dabei hat er auch noch ein paar Namen unterschlagen. Den Titeltrack "Du Bist Nicht Allein" zum Beispiel schreibt er sich ganz allein auf die Fahne. Dabei ist der Refrain dermaßen dreist von Cyndi Laupers "Time After Time" abgekupfert, dass ich mit dem Gedanken spiele, ihr per Mail eine Copyrightklage ans Herz zu legen. "Ey Du Da Oben" -"ich hab da ne Frage". Ich auch, nämlich ob Künstler die Bekanntheit von Tina Turners "The Best" hier in Deutschland so einschätzt, dass man den einfach noch mal rausbringen kann. Immerhin hat er ganz alleine die BPM hochgeschraubt.

Während ich mich hier in Rage tippe, singt er mir ein "Warum schreiben wir Hasskommentare?" ins Ohr. Manchmal ist man wohl die Antwort auf seine eigene Frage. Weil diese Musik Sinnbild für die kreative Armut der Industrie ist, weil irgendwelche konturlosen Gestalten Emotionen nach Schema F im Reagenzglas erzeugen und der Masse dann ein sympathisches Gesicht als Bezugspunkt hinstellen.

Zum Abschluss gibt es von mir in der Regel eine Empfehlung, für wen das vorliegende Album geeignet ist, also: Wer nach dem Böhmermann-Beitrag einen Gattungsvertreter in freier Wildbahn beobachten möchte, "Du Bist Nicht Allein" ist ein Prachtexemplar.

Trackliste

  1. 1. Verzeih Dir Selbst
  2. 2. Das Größte Kompliment
  3. 3. Stille Kämpfer
  4. 4. Weiße Haare
  5. 5. Du Bist Nicht Allein
  6. 6. Das Leben Hier Vermissen
  7. 7. Ey Du Da Oben
  8. 8. Mensch Zu Sein
  9. 9. Krokodilstränen
  10. 10. Völlig Ok
  11. 11. Papa
  12. 12. Salz In Der Luft
  13. 13. Stille
  14. 14. Kein Kind Der Welt
  15. 15. Ich Wie Du
  16. 16. Kommst Du Nach Hause
  17. 17. Vergänglichkeit

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