laut.de-Kritik

Vom Blaxploitation-Jazz zum Ritt durch Zeit und Raum.

Review von

Sucht ein Künstler nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, findet er abseits der bewährten Pfade oft den Weg hin zu seinen spannendsten Werken. Nachdem Herbie Hancock einige der besten Post- und Hard Bop-Alben für das ehrwürdige Blue Note-Label veröffentlicht hatte, fand er für drei Platten bei Warner Bros. ein neues Zuhause. Mit diesem Wechsel ging eine deutliche Veränderung im Sound einher. Eine außergewöhnliche Reise, die ihn zu einem wundersamen Ort brachte, an dem er noch nie war und an den er nie wieder zurück kehren sollte.

Während dieser Phase, die die Alben "Mwandishi", "Crossings" und "Sextant" umfasst, gab er sich selbst den Swahili-Namen Mwandishi. Von der Öffentlichkeit ignoriert und abgestraft endete die Periode nach "Sextant" in einem finanziellen Fiasko, das zum Umdenken und letztendlich mit "Head Hunters" zu einem weiteren, weitaus zugänglicheren Meisterwerk und wieder zu den dringend benötigten vollen Kassen führte. Die zwei ersten Alben dieser Trilogie sowie "Fat Albert Rotunda", das erste Loslassen vom Blue Note-Klang, finden sich nun auf dem von Rhino veröffentlichten "The Warner Bros. Years (1969-1972)" wieder.

Nachdem er bei Miles Davis, natürlich nur mit Genehmigung des Meisters, aufhörte, formte er mit Bassist Buster Williams, Schlagzeuger Billy Hart, Trompeter Eddie Henderson, Posaunist Julian Priester und Multiinstrumentalist Bennie Maupin sein eigenes Sextett. Ab "Crossings" stieß der Soundtüftler und Synthesizer-Pioneer Patrick Gleeson dazu.

Vom Ausgangspunkt "In A Silent Way" und allesamt über den ein oder anderen Umweg durch Betty Davis' Stachel mit Sly Stone und Jimi Hendrix infiziert, gingen sie auf eine im Ansatz ähnliche Reise wie die ehemaligen Wegbegleiter Joe Zawinul und Wayne Shorter auf den ersten Weather Report-Alben. Fasziniert von den vielen neuen elektronischen Möglichkeiten wandte sich Hancock Synthesizern und dem Fender Rhodes-Piano zu.

Seine Musik öffnete die Tore mehr und mehr den Improvisationen, überschritt die Grenzen und brach die Regeln des Jazz-Mainstreams. Tief, sehr tief, tauchte er in das Unbekannte, verband Jazz mit Soul-, Funk und R'n'B und fand sich im Avantgarde- und Fusion-Jazz wieder.

"Fat Albert Rotunda" eröffnet Hancocks Zusammenarbeit mit Warner Bros., zählt aber noch nicht zur Mwandishi-Ära. Viel mehr versteckt sich hinter dem Longplayer der Soundtrack zu Bill Cosbys Zeichentrick-TV-Spezial "Hey, Hey, Hey, It's Fat Albert", an dem die spätere Serie "Fat Albert & The Cosby Kids" anknüpft.

Gleichzeitig wirkt das Werk wie ein junger und gänzlich unbesorgter "Head Hunters"-Bruder. Erstmals bezieht Hancock Funk, Soul und ein Fender Rhodes-Piano in seine Musik ein. Aus dieser Kombination entwickelt sich eine Art zurückgelehnter Blaxploitation-Jazz der gehobenen Klasse. Nach dem funkelnden Beginn mit "Wiggle Waggle" und "Fat Mama" sticht vor allem "Tell Me A Bedtime Story" hervor. Erdig, offen und dem Publikum zugewandt, macht "Fat Albert Rotunda" in erster Linie Spaß und steht ganz im Zeichen des Grooves.

Diese Offenheit in Richtung des Publikums unterbricht Hancock mit der introspektiven Ausrichtung von "Mwandishi" rabiat. Gerade einmal drei Tracks breiten sich über 45 Minuten aus. Den Musikern stehen nur noch wenige Randinformationen, Akkorde und Melodien fürsorglich zur Hand, der Rest entwickelt sich frei. Meditationen, die sich aus Afro, Electro, Funk und Jazz speisen. Afrikanische Einflüsse, pulsierende Rhythmen, schier endlose experimentelle Sphären die Abstrakt und dynamisch aneinander prallen.

"Crossings", das finale Warner Bros.-Album, setzt die Experimente des Vorgängers fort, erweitert diese und stößt noch tiefer in unbekannte Gebiete vor, um dort ein eigenes Idiom zu finden. Mit Patrick Gleesen, der seine Moog-Syntheziser beisteuert, vergrößert sich das Sextett zu einem Septett und aus dem von afrikanischen Grooves beeinflussten Jazz entsteht ein experimenteller Ritt durch Zeit und Raum.

Die von Hancock geschriebene und fast 25 Minuten lange "Seeping Giant"-Suite vereint in ihrem komplexen Aufbau polyrhythmische Percussions, Jazz-Rock mit harten Funk-Jams und bleibt dabei erstaunlich organisch. Zeitgleich verleiht Gleesen dem Stück eine fremdartige Eleganz und lässt es zu einem Tanz durch bizarre Welten heranwachsen. Erstmals zeigt sich Robert Springett für die Cover-Gestaltung verantwortlich, dessen brillanten Darstellungen von nun an noch viele Hancock-Scheiben prägen sollten.

Das Rhino-Box-Set "The Warner Bros. Years (1969-1972)" erzählt einen Großteil der Geschichte der Mwandishi-Band noch mal in schönem Design, erstklassigem Klang, Auszügen aus dem Bob Gluck-Buch "You'll Know When You Get There: Herbie Hancock And The Mwandishi Band" und zu einem mehr als fairen Preis. Die zwei Bonusstücke pro Album, die nicht mehr als zusammengekürzte Singleversionen darstellen, wären hingegen verzichtbar gewesen. Um die Klammer vollständig zu schließen, die Rhino aufstößt, benötigt es die beiden Columbia-Alben "Sextant" und "Head Hunters".

"Nichts, das ich seitdem erlebt habe, hatte mehr Auswirkung auf mein Leben", erinnert sich Gitarrist Pat Metheny in Glucks Buch. "Für mich war diese Band der Inbegriff von allem, was Jazz immer versprochen hat. Kollektiv und individuell ließen sie einen Sound entstehen, der so tief in und neben seiner Zeit verwurzelt war, dass er vollkommen transzendent und zeitlos wurde. Sie inspiriert mich und eine Generation, nach ihrem Maß an Kreativität und Engagement zu streben."

Trackliste

Fat Albert Rotunda

  1. 1. Wiggle Waggle
  2. 2. Fat Mama
  3. 3. Tell Me A Bedtime Story
  4. 4. Oh! Oh! Here He Comes
  5. 5. Jessica
  6. 6. Fat Albert Rotunda
  7. 7. Lil' Brother
  8. 8. Wiggle Waggle (Mono Single Edit)
  9. 9. Fat Mama (Mono Single Edit)

Mwandishi

  1. 1. Ostinato (Suite For Angela)
  2. 2. You'll Know When You Get There
  3. 3. Wandering Spirit Song
  4. 4. Ostinato (Suite For Angela) (Promo Edit)
  5. 5. You'll Know When You Get There (Promo Edit)

Crossings

  1. 1. Sleeping Giant
  2. 2. Quasar
  3. 3. Water Torture
  4. 4. Crossings (Stereo Single)
  5. 5. Water Torture (Stereo Single)

Preisvergleich

Shop Titel Preis Porto Gesamt
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Hancock,Herbie – The Warner Bros.Years (1969-1972) €32,00 Frei €35,00

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Herbie Hancock

Vom Jazz einmal quer durch alle Genres und zurück: Rock, Pop, Funk, R'n'B, Electronica, Techno, Hip Hop ... Kein Feld, auf dem Herbie Hancock keine Spuren …

1 Kommentar