laut.de-Kritik

Sorry, Beyoncé: DAS ist die Queen Bee.

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Feministische Vorkämpferin oder clever vermarktete Männerfantasie? Während die einen - hauptsächlich Frauen - Lil' Kim auf ein Podest stellen und als Frauenpower-Ikone verehren, betrachten die anderen - in der Regel Männer - sie als des Notorious B.I.G.s dekoratives Geschöpf, als sein Produkt und damit als einen (weiteren) Beweis für männliches Genie. Der Bullshit-Gehalt beider Positionen dürfte sich stark ähneln.

Halten wir als zunächst fest, worüber weithin Einigkeit besteht: Eine Rapperin wie Lil' Kim hat es vor ihr nicht gegeben, nach ihr dagegen eine ganze Menge. Ob sie es nun geplant hatte oder nicht: Lil' Kim hat zahllosen Kolleginnen die Türen aufgetreten, auch und gerade einer Nicki Minaj, die sich später öffentlichkeitswirksam mit ihr beharkte.

Mit ihren über-expliziten Texten aus ihrer weiblichen Perspektive zelebrierte Lil' Kim Sexpositivismus, lange bevor der Begriff in aller Munde war. Eine ganze Generation junger Frauen (und außerdem wahrscheinlich nicht gerade wenige ältere) hörte auf "Hard Core" zum ersten Mal eine der ihren, wie sie komplett schamlos und unverblümt ihre sexuellen Wünsche artikulierte und dabei keineswegs nett und freundlich um deren Erfüllung bettelte, sondern diese von ihren Bettgespielen kompromisslos einforderte: "I don't want dick tonight / Eat my pussy right."

Als Indikator für den Pornografiegehalt von Rap-Lyrics eignete sich in den 90ern bestens, ob und wie schnell sie Cynthia Delores Tucker auf den Plan riefen. Die Bürgerrechtlerin und Politikerin hatte sich in ihren letzten Lebensjahren dem Kampf gegen - ihrer Meinung nach - frauenverachtende Songtexte verschrieben. Um dieses Album in ihr Fadenkreuz geraten zu lassen, hätte eigentlich sein "Intro In A-Minor" genügt: Wir begleiten darin einen Mann auf dem Weg in ein Pornokino (oder ein vergleichbares Etablissement), wo er einen Zehner in "Hard Core" investiert, um sich dazu auf Lil' Kim einen von der Palme zu wedeln. Dass ein Label "derlei Schmutz produziert", empörte Tucker erwartungsgemäß, trieb sie aber auch zu einer äußerst sachkundigen Etikettierung: Mit "Gangsta Porno Rap" bringt sie das vorliegende Werk tatsächlich ziemlich genau auf den Punkt.

Lil' Kim inszeniert sich - oder wurde inszeniert, an dieser Frage scheiden sich die Geister - als begehrenswerter, überaus feuchter Männertraum, zugleich aber von der ersten Sekunde, von "Big Momma Thang" an als die "Queen Bitch", allzeit Herrin der Lage, die alle Strippen und manch anderes fest im Griff hat. Klar hat Biggie ihren Style inspiriert und geformt. Dass er jedoch, wie, sobald die Rede auf Lil' Kim kommt, immer sofort irgendein Kerl aus dem Off krakeelt, ihre Reime geschrieben haben soll: eher unwahrscheinlich. Wobei die Vorstellung, wie Christopher Wallace seitenweise Order erteilt, wie er seine Muschi geleckt zu bekommen wünscht, während er Zeichentrickfilme guckt, oder darüber fantasiert, mit jedem gerade angesagten R'n'B-Sänger von Babyface über Craig Mack und D'Angelo bis hin zu R. Kelly zu rammeln, schon durchaus eine gewisse Komik birgt.

Lance 'Un' Rivera, Biggies Partner, Gründer von Undeas Records und als Produzent und Executive Producer mitverantwortlich für Junior M.A.F.I.A.s Album "Conspiracy," auf dem Lil'Kim debütierte, zeichnet jedoch ein anderes Bild: "Den Großteil des Albums hat sie selbst geschrieben", erinnert er sich. "Ein paar Songs gingen auf Biggies Kappe. Aber für alle Singles, auf denen sie jemals zu hören war und die Hits wurden, hat sie ihre Verses selbst geschrieben."

Jacob York, als Executive Producer und in Managementfragen in die Entstehung von "Hard Core" involviert, bestätigt das: "Es mag für die Leute schwer vorstellbar sein, dass eine Frau, die Zugang zu Biggies Talent hat, ihn nicht alle ihre Texte schreiben lässt. Das zeigt aber bloß, wie niedrig die Erwartungen waren, die Rap an eine Frau hatte." Lil' Kim, stellt er klar, ließ sich von Biggie in Flow- und Deliveryfragen beraten. Geschrieben hat sie ihre Texte selbst, den besten Beweis dafür liefert ihre in den Jahren nach B.I.G.s Tod ungebrochen weiterwachsende Diskografie. Oder, wie sie auf ihrem 2000er-Album "The Notorious K.I.M." tiefschwarz zusammenfasst: "To be bitin' my rhymes said B.I.G. write my rhymes / My nigga gone now, so who writin' my rhymes? / No disrespect, ya'll bitches owe me publishing checks."

Ihre Themen - im wesentlichen Sex, Designerklamotten, Sex, Klunker, Sex, Alkohol, Sex und Sex - musste ihr niemand diktieren. Die knallharte Aggression in ihren Zeilen lernte Kimberley Jones auf die harte Tour. Ihre Eltern hatten sich scheiden lassen, als Kim neun war. Die erste Zeit nach der Trennung lebte sie bei ihrer Mutter, machte da unerfreuliche Erfahrungen mit Obdachlosigkeit, ehe sie zu ihrem Vater nach Brooklyn zog. Mit dem soll sie sich dermaßen gut verstanden haben, dass sie, inzwischen 15, angeblich sogar mit einer Schere auf ihn einstach. Er setzte sie daraufhin auf die Straße, sie schmiss die High School, trieb sich herum - und traf Christopher Wallace, The Notorious B.I.G.

1994 war der gerade dabei, eine Crew namens Junior M.A.F.I.A. zusammenzustellen und zu promoten. Er machte Jones, fortan unter dem (angesichts ihrer winzigen Statur überaus passenden) Namen Lil' Kim unterwegs, zu einem Teil der Gruppe. Biggie machte Lil' Kim darüber hinaus zu seiner Geliebten - und zu seinem Projekt. Clover Hope zitiert Lance Rivera in ihrem (übrigens noch immer fantastischen) Buch "The Motherlode": "Als ich Lil' Kim zum ersten Mal hörte, hatte sie eine Aggressivität wie Fredro von Onyx, und Biggie hat es gehasst. Als wir das Junior M.A.F.I.A.-Album aufgenommen haben und sie 'Backstabbers' machte, hörte er diesen Ton in ihrer Stimme und sagte: 'Das ist es.' Er sagte: 'Jetzt sprichst du meine Männlichkeit von einem musikalischen Standpunkt aus an.'"

Ja, er formte sie und ihren Rap-Style nach seinen Vorstellungen. Er trieb ihr den harschen, rauen Ton aus, ließ sie sinnlicher, weicher, sexier klingen: "Es ging eher darum, ihr zu zeigen, wie man etwas rappt", so York. "Kim wusste immer genau, was sie schreiben wollte, aber manchmal brachte sie es nicht wirklich rüber. Dann klang sie wieder wie dieses Mädchen von der Straßenecke mit der tiefen Stimme." Lil' Kims Parts auf dem Junior M.A.F.I.A.-Debüt "Conspiracy" dienten als überaus taugliches Sprungbrett für eine Solokarriere. "You know: Junior M.A.F.I.A. was just a preview": Ende 1995 begannen die Arbeiten an ihrem Debüt-Album "Hard Core".

Wie Lil' Kim vermarktet wurde, entschieden natürlich Biggie und Rivera: "Meine Strategie für Kim sah folgendermaßen aus", rekapituliert zweiterer, "Sie war nicht die Ehefrau. Sie war das Luxus-Side-Chick eines Drogendealers (...) So nach dem Motto: Du trägst all diese teuren Klamotten, weil du die Mätresse des Nummer-eins-Pushers bist, du bist seine Nebenfrau, er kauft dir das alles. Alles ist getrieben von männlichen Hormonen, dem männlichen Ego, einer Männerfantasie. Es geht nicht um Liebe. Es geht darum, versaut zu sein."

Entsprechend wählte Biggie das (inzwischen ikonische) Foto aus, mit dem "Hard Core" beworben wurde. "Ich war an dem Prozess nicht einmal beteiligt", erinnert sich Lil' Kim im Interview mit dem XXL Magazine. "Ich war damals nur ein kleines Mädchen und hatte keinerlei Kontrolle, über nichts. Biggie nahm den ganzen Packen Fotos und blätterte sie durch, er fand, ich sei das sexieste Mädchen, das er je getroffen habe. Er hat niemanden sonst auch nur einen Blick auf die Bilder werfen lassen. Er nahm sie, setzte sich in eine Ecke und ging sie alle durch. Dann stand er auf, steckte sich einen Blunt an, warf die Negative auf den Tisch, deutete auf ein Bild und sagte: 'Dieses, das ist das richtige.' Das wurde dann benutzt. Ich hatte nichts zu melden. Ich habe noch nicht einmal alle Bilder zu sehen bekommen."

Die Aufnahme, die Biggie wählte, zeigt Lil' Kim in bester Wichsvorlagen-Pose, in einem knappen Designerbikini mit Leopardenprint und Pantöffelchen, dem Betrachter zugewandt, mit gespreizten Schenkeln. Auf dem Albumcover posiert sie im Negligée zwischen Rosensträußen. Auf einem verdammten Eisbärenfell. Wie viel Klischee darfs denn sein? (Antwort: Ja.)

Dass es um die Erfüllung männlicher Bedürfnisse ging, nicht um Liebe, erfuhr Lil' Kim am eigenen Leib. Auch für Biggie blieb sie das Luxus-Side-Chick - geheiratet hatte er unterdessen eine andere. Die Beziehung der beiden gestaltete sich explosiv und gewalttätig und für Lil' Kim durchaus deprimierend: "Ich konnte manche Songs einfach nicht mehr fertigstellen, deshalb landete dann auch Lil' Cease auf 'Crush On You'", blickt sie zurück. "Er war gar nicht eingeplant, aber mir ging es scheiße und ich musste weg, um den Kopf freizubekommen, weil ich schwanger war. Ich wollte dieses Album fertigstellen, weil es genau das war, was ich tun wollte. Ich wollte wirklich dringend der Welt mein Talent zeigen." Für das Baby eines Mannes, der sie bestenfalls als zweite Wahl betrachtete, blieb da kein Platz.

Lil' Kim wurde sexualisiert, objektifiziert, kontrolliert - sie als eine Vorreiterin der Frauenbefreiung zu feiern, mutet also einigermaßen schräg an, und sie hatte solches auch gar nicht im Sinn: "Ich hatte überhaupt kein Ziel. Ich liebte Musik, und in meiner Wahrnehmung habe ich einfach gezeigt, was ich künstlerisch draufhatte. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie gut dieses Album laufen würde. Ich hatte überhaupt keinen Plan von der geschäftlichen Seite des Ganzen. Wenn du mich damals gefragt hättest, ob ich denke, dass ich irgendwann einmal Millionärin sein würde: Niemals hätte ich das gedacht!"

Das Album lief extrem gut. Erschienen im November 1996, landete es unmittelbar auf Platz elf der Billboard Charts, in den R'n'B- und Hip Hop-Charts sogar auf der Drei: der höchste Charteinstieg einer Rapperin bis dato. Im Januar '97 war die Platte bereits vergoldet, vier Jahre später verzeichnete "Hard Core" Doppelplatin. "No Time", produziert und mit Feature-Part von Puff Daddy, landete an der Spitze der Hip Hop-Charts, genau wie die nächsten beiden Singles: Auch das war bis dahin noch keiner Frau gelungen.

Vor allem: Nie zuvor hat eine kleine, obendrein Schwarze Frau der Welt dermaßen unverblümt ihre sexuellen Wünsche ins Gesicht gerotzt und auf deren Erfüllung gepocht, wie Lil' Kim das auf "Hard Core" tat. Sie bescherte einer ganzen Generation junger Frauen eine für viele tatsächlich bahnbrechende Erkenntnis: Es ist nicht nur okay, wenn eine Frau sagt, was sie will und wie sie es will, es ist sogar bitter nötig. Konstruiertes Image hin oder her: Genau diese Pionierinnenleistung macht Lil' Kim zu einer Galionsfigur für Female Empowerment, Selbstermächtigung und Sexpositivity, ob sie das nun vorhatte oder nicht.

"Sie mag sexualisiert worden sein, aber sie war sich dessen stets bewusst", schreibt Dazed. "Sie war mehr als willens und bereit, blankzuziehen, sich und andere heiß zu machen und zuzulassen, dass Männer sie begehren. Damit wurde sie zu einem Leuchtfeuer für Frauen, die, von konservativen Werten eingeschränkt, immer erzählt bekommen haben, Frauen könnten entweder smart oder sexy sein, aber selten beides. Frauen bekommen beigebracht, dass es sie geistig minderbemittelt dastehen lässt, wenn sie ihre Sexualität ausleben. Kim quittierte das mit zwei erhobenen Mittelfingern, indem sie beispiellosen Erfolg und Kritikerlob einfuhr, während sie ihre Schönheit zur Schau stellte und Männer instruierte, sie so zu ficken, wie sie gefickt werden will."

Tatsächlich war Lil' Kim die erste ihrer Art. Entgegen dem viel zu oft kolportierten Gründermythos war Hip Hop zuvor zwar auch kein Männerding, es gab zu allen Zeiten reichlich (und auch erfolgreiche) Frauen im Rap, man denke nur an Roxanne Shanté, Queen Latifah, Salt-N-Pepa, MC Lyte, Lady Of Rage, Gangsta Boo ... doch eine, die ihre Weiblichkeit auf mindestens dem gleichen Level zelebrierte wie ihre Skills, so eine hatte es vorher nicht gegeben. Sämtliche hyperfemininen Rapperinnen, die nachfolgten, wandeln auf ihren Spuren.

"Es wird noch immer kopiert, während wir uns hier unterhalten", zitiert Nylon in einer Würdigung von "Hard Core" anlässlich seines zwanzigjährigen Jubiläums den Sprach- und Literaturwissenschaftler Greg Thomas. "Es diente als Blaupause, die jedes Label, das eine Rapperin vermarkten wollte, kopierte, wenn auch meist schlecht. Für Künstlerinnen mit und ohne Plattenvertrag landauf, landab war 'Hard Core' die Heilige Schrift. Hypnotisiert von dieser Performance, brechen die Leute seither schamlos Hip Hops Kardinalgesetz, den Imperativ, um jeden Preis originell sein zu müssen ('Death to biters!')."

Man müsste dieses Album dafür eigentlich hassen. Ganz unabhängig von seiner emanzipatorischen Sprengkraft oder seinen Nachwirkungen bleibt "Hard Core" aber einfach eine brachial gut gerappte, unglaublich unterhaltsame und stellenweise schlicht saukomische Angelegenheit. Wie Lil' Kim in "Big Momma Thang" das Ruder übernimmt, dem doch eher bedauernswerten Protagonisten aus dem Intro das Kleenex aus der Hand schlägt und ihre Featuregäste Lil' Cease und Jay-Z in einem supergroovy Track wie vernachlässigbare Zaungäste aussehen lässt: priceless. Ihre Verses in "Spend A Little Doe" zu relaxtem Klavier sind pures Feuer, "Queen Bitch" von vorne bis hinten aggressiv as fuck.

Was (wie "Take It!" zeigt) Männer können, nämlich despektierlich über die eventuelle Fickbarkeit von Vertreter*innen des anderen Geschlechts ablästern, können Frauen schon lange und noch fieser: Lil' Kim revanchiert sich in "Scheamin", fantasiert in "Dreams" über diverse prominente Schwengel und kontert die Männerträume von (schon wieder) Lil' Cease und Trife mit einem "We Don't Need It" aus.

"Not Tonight" (als Bonus noch einmal in einer Ladies Night-Version mit Lisa Left Eye Lopes, Da Brat, Missy Elliott und Angie Martinez nachgelegt) macht den Sack final und unmissverständlich zu: "The moral of the story is this / You ain't lickin' this, you ain't stickin' this / And I got witnesses, ask any nigga I been with / They ain't hit shit till they stuck they tongue in this." Dass Produzent Jermaine Dupri dafür ausgerechnet "Turn Your Love Around" von George Benson versamplet: nur die Kirsche auf der Comedy-Sahne.

Sorry, Beyoncé: Die echte Queen Bee heißt Lil' Kim.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Intro In A-Minor
  2. 2. Big Momma Thang feat. Lil' Cease & Jay-Z
  3. 3. No Time feat. Puff Daddy
  4. 4. Spend A Little Doe
  5. 5. Take It!
  6. 6. Crush On You feat. Lil' Cease
  7. 7. Drugs
  8. 8. Scheamin
  9. 9. Queen Bitch
  10. 10. Dreams
  11. 11. M.A.F.I.A. Land
  12. 12. We Don't Need It
  13. 13. Not Tonight
  14. 14. Player Haters
  15. 15. Fuck You

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