laut.de-Kritik
Diese Frau nimmt Europa die Scheu vor Country.
Review von Philipp KauseVom ersten Moment in eine Platte verliebt zu sein, birgt dieses gewisse Risiko: Dass die Verliebtheit in Normalität und Gewohnheit abflacht. Es gibt viele Gründe dafür, dass Lilly Hiatt emotional flasht: schöne Stimme, facettenreiches Stimmungsbild, super eingängige Melodien, versunkenes in sich Ruhen. Aber immer wieder erinnert Lilly Hiatt daran, dass sie aus dem Country stammt und diesen im Grunde auch macht. Nicht in jedem Song, doch in fast jedem.
Trotzdem steht dies "Walking Proof" nicht im Weg, sondern wirkt sogar als angenehme, frische Farbe im heutigen Songwriter-Rock. Banjos melden sich, mal heult eine Fidel. Country-Taktschlag und die besonderen Halbtonschritte der Nashville-(Dis-)Harmonien könnten eine Klischee-Aversion auslösen. Nicht so bei Lilly. Kein einziges Mal glitscht sie ins Klischee ab.
Dafür schert sie zugleich in die Alternative- und Post-Grunge-Schiene aus. Partiell, wie im Song "Trawl", mag man von Dream-Pop sprechen. Immer gleitet das Album "Walking Proof" weiter und weiter, ohne sich einmal in Versatzstücken zu verheddern, die 'man' bringen müsste – eine Sache, die der Country- und Western-Musik oft in Europa die Popularität versagt, weil sie sich so krampfhaft an eine verengte Zielgruppe wendet.
Lillys Stil hält da mit Individualismus dagegen – mit Power-Pop-Riffs, wie sie "Brightest Star" durchziehen, peppig und kantig machen. In "Never Play Guitar" bekommt ihr Stil etwas dynamisch Drängendes, dadurch dass sie mal locker-flockig aufspielt, aber ein paar Takte weiter markige Kombinationen aus Hammond-Orgel und dröhnendem Verstärker-Bass lauern und sich das stetig so abwechselt. Es mischen sich in "Scream" pulsierende Drum-Echos unter die formschönen Gitarrenmelodien. Bei dieser Alternative-Ballade "Scream" ist jeder Bezug zu Nashville weggewischt und vergessen.
Über allem schwebt die absolut treffsicher intonierende Songwriterin mit einer Stimme, deren Timbre und Tonhöhe warm und wohlig, doch auch wie eine frische Brise klingen. Hiatt vertraut in manchen dezent piepsigen Tönen stimmlich auf den Beschützerinstinkt und darauf, dass man sie nett finden wird. Weil sie aber auch technisch richtig klasse singt, wirkt sie damit sogar überaus charismatisch und stark - genauso wie sie überzeugend die Rolle als souveräne Alles-Selbermacherin ausfüllt.
Wenn es in die härteren Segmente der Platte geht, erarbeitet sich die Geheimtipp-Gitarristin auch Relevanz, hört sich 'unique' an. Für Fans krachender Rockmusik eignet sich "P Town". In "Little Believer" geht der Gesang nach der ersten Strophe ein Kräftemessen mit den glühenden Saiten ein, ringt mit den erdigen Drum-Schlägen um Aufmerksamkeit. Alle Bestandteile werden immer intensiver und steigern sich zum Peak. Der Text verschwimmt in der zigmaligen Wiederholung derselben Textzeile. Die Gitarren ächzen so hölzern wie von Starkstrom durchflutet, liefern Grunge-Rock im Sinne von Kristin Hersh und Neil Young.
Oft halten die Lyrics her, um einen Anlass für die beseelten Melodien und den Spaß am Spiel zu haben - ungewöhnlicher Ansatz für eine Singer/Songwriterin. Sie erzählt Stories, aber der Text fließt beiläufig.
Wer eine so tolle Stimme hat wie Lilly Hiatt, braucht auch keine großen Anlässe für neue Geschichten. Denn diese Sängerin verwandelt alles in spannende, ungehörte Momente, elf Mal hintereinander. Und so hat ihr Album "Walking Proof" einen festen, tiefen Biss. Jeder Track ein Treffer!
2 Kommentare
Ich würde sagen die Dame hat das schon mit der (Vater) Milch mit auf die Welt bekommen, mit John Hiatt aufzuwachsen kann nicht unmusikalisch sein
Bin zufällig auf dieses Album gestossen und kann die Rezi bestätigen: Ein tolles Werk, spannende Stimme und Songs. Weit weg vom 0815-Nashville-Country, ohne Country per se zu verleugnen.