laut.de-Kritik
Der leise Schwanengesang des Grunge.
Review von Sven KabelitzDreiunddreißig Sekunden lang hatte ich Angst. Angst, dass eines meiner Lieblingsalben der 1990er bei einer Überarbeitung seinen Charme verlieren könnte. Angst, dass mit einem Mausklick der Timingfehler des Bassisten im Einstieg von "Wake Up" korrigiert wurde und "Above" seinen kauzigen, unvollkommenen Liebreiz verliert. Doch zum Glück bleibt alles wie gehabt.
Pünktlich zur Veröffentlichung der Deluxe Edition wird wieder allerorts von einer Soupergroup, bestehend aus Layne Staley (Alice In Chains), Mike McCready (Pearl Jam), Barrett Martin (Screaming Trees) und John Baker Saunders (The Walkabouts), gesprochen. Dabei wird vergessen, dass die Grunge-Szene in Seattle zumindest musikalisch dem Grundmotto der späten 1960er folgte. Jeder darf mit jedem. Ein Gedanke der Bands wie Brad, Temple Of The Dog, Sun Red Sun, Mind Funk, Three Fish, Class Of '99 und eben Mad Season durchzieht.
Leider folgten nicht wenige aus diesem Umfeld auch einer weiteren Maxime. Jeder nimmt alles. Gleich der betäubende, nach Nacht riechende Einstieg mit "Wake Up" behandelt ausführlichst das Haupthema von "Above". Drogenkonsum und der Verfall der eingenen Seele. Seiner Situation nur allzu bewusst, fleht Staley sich selbst an, endlich aufzuwachen. "Your love affair has got to go … / Slow suicide's no way to go." In Anbetracht des Schicksals, das Staley und dessen Freundin Demri Parrot, sowie Bassisten John Baker Saunders zu diesem Zeitpunkt noch bevor steht, sind dies düstere und fast prophetische Worte.
Musikalisch wissen die vier Musiker nicht immer, wo der Weg genau hingehen soll. So entsteht ein endloser Jam zwischen Grunge, Blues und Jazz, den einzig Staleys Gesang fokussiert. Auf den wird im Finale aus "November Hotel" und "All Alone" zudem fast gänzlich verzichtet. Mad Season gleichen dem dämmrigen Spielplatz, vor dem uns unsere Eltern gewarnt haben. Neben der Bank stapeln sich die Stummel unzähliger ausgerauchter Joints und im Sandkasten liegt noch die ein oder andere benutzte Heroinspritze vergraben.
"My pain is self-chosen / At least so the prophet says." Staleys Zeilen in "River Of Deceit" schneiden ohne Vorwarnung direkt bis ins Mark. McCreadys herausragendes Gitarrespiel überstrahlt die düsteren Worte. Ein letzter, kaum wahrnehmbarer Hoffnungsschimmer? Denkste. "I could either burn / Or cut off my pride and buy some time."
Marimbas und Percussions bilden das Grundgerüst für das zauberhaft verschrobene "Long Gone Day", in dem sich Staley die Vocals mit dem damaligen Screaming Tree-Frontmann Mark Lanegan teilt. "Whoever said we'd wash away with the rain." In einer Zeit, in der das Saxophon zu den verpöntesten Instrumenten überhaupt gehörte, zeigte Skreik mit einem einfühlsamen Solo, dass nicht alles gleich in "Careless Whisper" enden muss.
Lanegan kommt im Bonus-Material nochmals eine größere Rolle zu. Für die etwas unglücklich an das Original-Material gehängten Songs "Locomotive", dem mit Peter Buck geschriebenen "Black Book Of Fear" und "Slip Away" übernimmt er die Texte und das Mikro. Die drei Tracks waren bereits instrumental für das Nachfolgealbum von "Above" eingespielt, wurden aber bisher nicht vollendet. Besonders "Black Book Of Fear" wirkt wie eine Zeitmaschine in längst vergangene Tage. Doch vielleicht hätten sich die Tracks auf einer seperaten EP besser gemacht. Lustlos angeklebt zerstören sie etwas das Gesamtbild.
Die druckvollen Live-Aufnahmen der Bonus-CD "Live At The Moore" halten sich größtenteils an die Studioaufnahmen, machen aber nochmals deutlich, welch geschickte Musiker hier am Werk sind. Skeriks jähzorniges Saxophon-Solo in Lennons "I Don't Wanna Be A Soldier" lässt manch einen Gitarristen in Ehrfurcht erstarren. Die verzichtbare DVD bietet dagegen neben dem "Live At The Moore"-Auftritt und dem Video von "River Of Deceit" größtenteils verwackelte Aufnahmen privater Videokameras. Man muss schon ein ziemlicher Fan sein, damit bei dieser schlechten Qualität das Herz schneller schlägt.
Leiteten Nirvana mit "Nevermind" vier Jahre zuvor den Grunge-Boom ein, bläst "Above" die bereits bis zum Docht herunter gebrannte Kerze bedächtig aus. Zwar folgten noch einige Longplayer von Soundgarden und Alice In Chains, der Zahn war aber bereits gezogen. Europa hüpfte längst im Takt zu Oasis und Blurs Britpop. So wird aus dem oft übersehenen "Above" der leise Schwanengesang einer Musikkultur. "The only direction we flow is down."
13 Kommentare
beste grunge platte ever...so viele gute gibts ja eh nicht...
Waere das ohne diese Wiederveroeffentlichung eventuell auch ein Meilenstein geworden? Da sind 1, 2 Stuecke drauf, die ich mir definitiv nie wieder anhoeren kann.
war durchaus ein thema @ baude. welche kannst du denn nicht mehr hören und warum?
ich glaube nicht, dass suchtkrankheit etwas ist, dass man sich aussucht. das ist doch überkommener volxglaube...im gegenteil: der innere schmerz ist meistens so groß, dass sowohl die kunst als auc die drogen ein ventil sind...nicht bei allen, aber in der kunst bei vielen....@rockernille (« Sehr schönes Album, da geht so einiges unter die Haut. Neben "Temple of the Dog" nun eines meiner Lieblingsalben für graue Tage. Teilweise muss man doch sehr mit Staley mitleiden, aber na ja - "My pain is self-chosen" - schade, dass sich so geniale Künstler selbst vernichten mussten...
5 Sterne »):
Ich meinte auch nicht, dass er sich die Suchtkrankheit ausgesucht hat, aber halt die Drogen. Man hat immer 'ne Wahl, man muss das Zeug nich nehmen aber das gehört leider wohl in diesem Business dazu, wie viele Rockstars irrtümlicherweise glauben (Beispiel Taylor Hawkins - BACK AND FORTH). Aber lassen wir die alte Drogendebatte - genießen wir lieber die gute Musik
Daumen hoch ...