laut.de-Kritik
Zwei Streithähne schreiben Musikgeschichte.
Review von Ulf KubankeMünster, Februar 1997: David Bowie sitzt auf dem Wetten Dass?-Sofa neben Thomas Gottschalk und erklärt die Einflüsse des Krautrocks auf seine Musik. "Kennt jemand Kraftwerk?" fragt er die Halle und das Publikum applaudiert heftig. Dann: "Kennt irgendjemand die Band Neu!?" Nur ein einzelner, trauriger Klatscher erschallt von den Rängen. Diese Szene steht symptomatisch für das Schicksal von Neu!.
Ihre Debütplatte ist das "Velvet Underground & Nico" des Krautrock. Nie in irgendeiner Hitliste gewesen und der breiten Masse wenig bekannt. Gleichwohl ein höchst inspirierender Wegweiser für Bowie, Eno, Radiohead, Sonic Youth, John Frusciante, U2 oder die Red Hot Chili Peppers. Sogar Britpopper wie Oasis schreiben mit "Shock Of The Lightning" eine Hommage an die deutsche Band.
Mit solcherlei Lorbeer war zur Zeit der Aufnahmen, Ende 1971, noch nicht im entferntesten zu rechnen. Neu! Besteht zu diesem Zeitpunkt aus dem Kernduo Michael Rother und Klaus Dinger. Beide waren zuvor – gemeinsam mit Florian Schneider – die Mark II Besetzung Kraftwerks und spielten auf Tour großartig rockende Improvisationen wie
"Heavy Metal Kids", die ihrer Zeit weit voraus waren. Doch Schneider passte musikalisch besser zu Hütter, weshalb das Duo unter der Regie Conny Planks eine ganz eigene Platte aufnahm.
Letzterer ist der Godfather des Krautrock und Elektropop und eine Schlüsselfigur für die gesamte LP. Der Wegbereiter von Kraftwerk, Ultravox, DAF oder den Eurythmics war stets mehr als ein simpler Producer. So fungierte der philanthrope Sympath ebenso als Ideengeber, musikalischer Mitgestalter und Lehrer für die jungen Künstler. Bei Rother und Dinger übernahm der warmherzige Hüne während der Recording-Sessions noch dazu die Rolle des Friedensstifters zwischen den beiden Streithähnen. Diese waren so verschieden wie Reed und Cale, dabei als Musiker aber auch genauso brilliant im Doppel.
Schon beim Opener "Hallogallo" zeigt sich Planks Einfluss deutlich. Der Song ist die absolute Visitenkarte des Krautrock überhaupt und wurde dank Edelfan John Peel auch international bekannt. Rother: "Die absolut einmalige Atmosphäre entstand dadurch, dass Conny das Band mit der aufgenommenen Idee einfach umdrehte. Zu der rückwärts gedrehten Musik spielte ich dann eine weitere Ladung Gitarren ein. Als alles zusammen dann nochmals von ihm umgedreht wurde, war plötzlich "Hallogallo" als das geboren, was es heute ist."
Kreativität und Innovation zeigen sich ebenso in der vollkommen eigenständigen Herleitung ihrer Stücke. Im Gegensatz zu angloamerikanschen Rockmusikern gab es bei den Krautrockern kein überliefertes Fundament à la Rock'n'Roll, Blues oder Country. Das Fehlen solcher Einflüsse macht die magische Andersartigkeit Neu!s aus (vgl. nur "Weißensee"). Rother: "Die Techniken und Schablonen, mit denen ich das Gitarrenhandwerk erlernte, wollte ich überwinden, um neue Ausdrucksformen zu erfinden. Das Instrumentarium war dasselbe wie im traditionellen Rock. Dadurch, dass das Konzept ein anderes war und andere Ziele angestrebt wurden, kam auch etwas ganz und gar anderes raus. Wir haben mit denselben Mitteln eine ganz andere Musik gemacht."
Getreu dieser Philosophie entwickelt auch Klaus Dinger eine neue Ausdrucksform für das Schlagzeug: den Motorik-Beat. Dieser besteht aus einem konstant pulsierender Rhythmus, der sich nahezu variationsfrei über einen langen Zeitraum monoton erstreckt. Neben dem Opener zeigt sich dessen suggestive, mitunter hypnotische Kraft vor allem in "Negativland" als Gegenpol zu Rothers wilder Sägewerk-Gitarre. Kraftwerk Mark III zeigten sich von dieser Erfindung so begeistert, dass sie diese gern für ihr drei Jahre später erscheinendes "Autobahn"-Album stibitzen und weltweit bekannt machen.
Auch aufgrund persönlicher Querelen konnten Neu! - trotz ein paar weiterer gelungener Alben - nie wieder an diesen musikhistorisch wegweisenden Geniestreich anknüpfen. Weiterhören mit Michael Rothers erfolgreichem Solo "Flammende Herzen" und Klaus Dinger, der als La Düsseldorf das hervorragende "Time" ablieferte.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
5 Kommentare mit 3 Antworten
la düsseldorf: http://www.laut.de/La-Duesseldorf
Bin überrascht, hätte mehr mit der '75 als Meilenstein gerechnet. Nichtsdestotrotz, großartiges Album einer Band deren Musik leider viel zu unbekannt ist in deutschen Gefilden. Negativland ist einfach ein Übersong.
Die bisherigen Meilensteine waren irgendwie mit mehr Herzblut geschrieben. Sehr kurzer Text und vom Album selbst weiß ich genauso viel, wie vorher.
Ich muss leider zustimmen: Das ist eine schwächere Rezi, gerade aus Ulfs Feder. Neu! haben es selbstverständlich verdient, auch wenn 99% des Krautrocks für mich heute staubig klingt.
Also ich kannte da mal nichts von und so kann die "Rezi" gar nicht zu kurz sein für mich. Außerdem gebe ich mal zu bedenken, das Album ist von 1972 die meisten der damaligen Hörer sind um die 60 Jahre + und entweder tot, kurz davor oder etwas senil. Neue Hörerschichten aufzuwecken oder erschließen war wohl nicht Ulfs Ansinnen. Naja Ulf wird auch nicht jünger.
Gruß Speedi
@Tinco: Apropos staubiger Krautrock. Mit dem Titelstück "Staub" huldigt Spyra auf seinem 2014er Album zweifellos Klaus Schulzes "Crystal Lake". Oder nicht? http://www.youtube.com/watch?v=eVUTYzwF-Ns
Endlich! Eines der besten Alben aus deutschen Landen überhaupt.
Zur Inspiration für Eigenes ganz brauchbar, sehr experimentell und stückweise interessant, aber vom Hocker gehauen hat mich das nie.