Andy Powell und Co. überzeugen im Breisgau mit ihren epischen Longtracks. Der Frontmann überrascht im Interview mit Erwägungen, bald mal wieder mit elektronischen Klängen zu experimentieren.

Freiburg (dr) - Wenn eine Rockband, die in den 1970er Jahren ihre größten Erfolge feierte, an einem 11. Januar auf die Bühne des Jazzhauses im eingeschneiten Freiburg tritt, kann es sich nur um eine handeln: Wishbone Ash beehren die hiesigen Breitengrade stets zu Beginn jedes Jahres. So war es vor der COVID-19-Pandemie, so ist es auch seit dem vergangenen Jahr wieder. "If it's January, it's Germany", teilt mir der sehr entspannt und freundlich auftretende Frontmann und Gitarrist Andy Powell eine Bandweisheit vor dem Konzert in der Lobby seines Hotels mit.

Das Jazzhaus füllt sich rasch. Mit vollem Haupthaar können die meisten Besucherinnen (eher spärlich vertreten) und Besucher nicht mehr glänzen, dafür aber mit hörbarer Begeisterung für Wishbone Ash. Nur eine Altersgenossin treffe ich in der ersten Reihe an, die ihren Papa mitgebracht hat. Die beiden sympathischen Konzertveteranen mit stolzer LP-Sammlung besuchten bereits kaum mehr zählbare Rockkonzerte gemeinsam, einst sogar drei Generationen übergreifend mit der ebenfalls heavy Saitenklängen alles andere als abgeneigten Oma im Rollstuhl.

Herrliche Soli der Twin Guitarists Powell und Abrahams

Für alle, die vor Konzertbeginn bereits auf die Bühnensetlist spickten, birgt der Opener eine Überraschung: Es handelt sich nicht um "The King Will Come", wie die auf der Bühne klebenden Blätter verkünden, sondern um "Real Guitars Have Wings" vom "Nouveau Calls"-Album aus dem Jahr 1987. Doch schon bald – ab dem dritten Song des Abends – besingt Andy Powell nicht nur die royale Ankunft. Mit "Warrior" und "Throw Down The Sword" präsentieren Powell, Mark Abrahams an der zweiten Gitarre, Bob Skeat am Bass und Mike Truscott an den Drums zwei weitere Fanfavoriten aus dem legendären Album "Argus". Vor dem Gig hegte ich Befüchtungen, dass es der Band nicht gelingen würde, die Energie der vor 52 (!) Jahren veröffentlichten Songs auf die Bühne zu bringen. Mit Schaudern erinnerte ich mich etwa an Mitschnitte von Yes-Konzerten der vergangenen Jahre, auf denen etwa "Close to the Edge" in einer schaurigen Sedativ-Version aufgeführt wurde. Meine Befürchtungen lösen sich bereits bei "The King Will Come" in Luft auf. Der 73-jährige Andy Powell glänzt weiterhin an der Gitarre Nummer 1, spielt die Riffs und Soli in "The King Will Come" und "Warrior" in Originalgeschwindigkeit.

Nur in "Throw Down The Sword" wird die Geschwindigkeit eines des schönsten Gitarrensoli der Rockmusikgeschichte ein wenig gedrosselt. Man wird ja auch nicht jünger. Mit der Auswahl von Mark Abrahams als Zweitgitarrist gelang dem Frontmann vor nunmehr sieben Jahren ein echter Glücksgriff. Abrahams sorgt an diesem Abend in "unserer liebsten deutschen Stadt", wie Powell die Lokalpatrioten im Publikum bauchpinselt, nicht nur für das obligatorische Twin-Gitarren-Feeling, das Wishbone Ash zu Beginn der 1970er Jahre mitprägten. Nein, Abrahams macht – ebenso wie Powell im Hawaiihemd auftretend – dem ewig coolen Frontmann in Sachen Gitarrenposing echte Konkurrenz.

Nach den begeisternden drei "Argus"-Songs flacht das Konzert vorübergehend etwas ab. Dass die Setlist ab dem dritten Song dem "Live Dates"-Album entspricht, erweist sich als eine der wenigen Schwächen des Auftritts. Konzerte im Jahr 1973, als das Livealbum erschien, folgten bereits derselben Logik wie heutige Konzerte: Die Songs des aktuellen Albums (bzw. in diesem Fall eher der letzten beiden Alben) werden zu Beginn präsentiert, die bis dato populärsten Songs zum Schluss. So werden drei "Argus"-Epen auch an jenem Freiburger Abend bereits zu Beginn verbraten.

Das gute musikalische Handwerk als Ursache für die Verortung in der Prog-Rock-Schublade?

Das frühe Opus magnum als ewiger Fluch? Es sei "ein Problem aller Bands unserer Ära", stets an vorherigen Werken gemessen zu werden, gesteht Andy Powell vor dem Konzert ein und führt Deep Purple als weiteres Beispiel an. Für ihn gelte in musikalischer Hinsicht dennoch folgendes Motto: "Respektiere die Vergangenheit!" Daran, dass Powell das tut, lässt das Konzert mit seinem Retro-Fokus auf dem "Live Dates"-Album keinen Zweifel. Nach den beiden soliden, aber unspektakulären Songs "Rock 'n Roll Widow" und "Ballad Of The Beacon" geben die entspannt auftretenden Musiker vor, den Blues zu haben, und stimmen Jimmy Reeds "Baby What You Want Me To Do" an. Es mag die Unverschämtheit eines Anfangdreißigers sein, aber wenn ein Mann der Ü70-Generation Zeilen wie "I'm goin' up, down, down, up / Anywhere you want me to go" trällert, kräuseln sich mir die Zehennägel – selbst wenn eine so coole Socke wie Andy Powell jene Zeilen singt. Zudem sträubt sich nicht nur der puristische Prog-Rock-Fan in mir, den Coversong als gelungen einzustufen.

Obschon es den Begriff Progressive Rock, wie Andy Powell berichtet, im Jahr der "Argus"-Veröffentlichung noch gar nicht gab, ist der Bezug zum Genre doch deutlich. Auch weil die Band seit vielen Jahren entsprechende Genrefestivals bespielt, etwa im vergangenen Jahr die Night of the Prog auf der Freilichtbühne Loreley. Möglicherweise aber auch, weil "das musikalische Handwerk [der Band] immer gut war", wie Andy Powell ohne falsche Bescheidenheit mutmaßt, was eine wichtige "Komponente des Prog Rock" sei.

"The Pilgrim" übertrifft Studioversion aus dem Jahr 1971

Nach der Drei-Song-Durststrecke begeistern Wishbone Ash im Jazzhaus wieder. Die Liveversion von "The Pilgrim" schiebt den Vorhang zur Kopfkinoleinwand quasi per Saitenbedienung beiseite und übertrifft die Studioversion um Längen – nicht nur, weil die Albumversion einst in LoFi-Qualität mit unüberhörbarem Hintergrundrauschen aufgenommen wurde. Das gelingt nicht vielen Bands, die einen 53 Jahre alten Song spielen! Es handelt sich sicherlich nicht um einen Zufall, dass Wishbone Ash an diesem Abend insbesondere mit ihren episch-verträumten Longtracks überzeugen. Die Band veröffentlichte nie 20-Minuten-Epen wie Pink Floyd. Sie konnte nie mit ironisch gebrochenen lyrischen Meisterstücken aus der Feder Peter Gabriels aufwarten wie die frühen Genesis. Und sie besaß nie einen Musterchorknaben wie Jon Anderson. Und doch begeistert sie mit ihren – in ihrer stilistisch breiten Diskografie in quantitativer Hinsicht keineswegs hervorstechenden – instrumentell anspruchsvollen Epen auch heute noch live.

Warum also führte sie ihren eingeschlagenen musikalischen Weg nicht fort und bog nach "Argus" in mainstreamigere Rock-Gefilde ab? Andy Powell führt an, dass einerseits die bandinternen Besetzungswechsel zu jenen Veränderungen führten, andererseits aber auch der Druck auf die Band nach dem nicht nur in künstlerischer Hinsicht vollen "Argus"-Erfolg. Die LP erreichte 1972 den dritten Platz der britischen Albumcharts. "Wir unterstützten die Kommerzialität, die von den Labels und Managern verlangt wurde, zu sehr", gesteht Andy Powell überraschend offen ein.

Andy Powell kann sich Release eines weiteren Techno-Dance-Albums vorstellen

Die beiden Dance-Alben "Trance Visionary" und "Psychic Terrorism" aus der zweiten Hälfte der 1990er Jahre möchte Powell allerdings nicht als kommerziell motivierte musikalische Veränderungen eingeordnet wissen. Der Frontmann erinnert sich daran, dass sich das von ihm nach wie vor sehr geschätzte AOR-Album "Illumination" schlecht verkaufte. Daraufhin habe er zu seinen damaligen Bandkollegen gesagt: "Lasst uns ein bisschen Spaß im Studio haben!" – ohne kommerziellen Druck und ohne große künstlerische Erwartungen. Mit den beiden Alben habe er sich "eine Art Scherz" erlaubt. Ein Experiment, das er nicht mehr wiederholen wird? Zu meiner Überraschung kann sich Andy Powell durchaus vorstellen, nochmals ein "Techno-Dance-Album" aufzunehmen – allerdings ein "organischeres" als die beiden 1990er Alben, "mit mehr Gitarreneinsatz und weniger Studiotricks".

Mit Techno- und Danceklängen überrascht Andy Powell die Menge im Jazzhaus später allerdings nicht. Er und seine Band bleiben an diesem Abend erwartungsgemäß beim bewährten musikalischen Prinzip: Zwei E-Gitarristen, ein Bassist und ein Drummer stellen die Prog-Rock-Fraktion ebenso wie die AOR- und Blues-Fraktion zufrieden. Nach "Lady Whiskey" beschließt eine extralange und extragute "Phoenix"-Version das reguläre Set. Hier begeistern nicht nur die Guitar Twins im Hawaiihemden-Partnerlook. Auch der zuvor unauffällig (oder positiv formuliert: songdienlich) agierende Mike Truscott beweist zum krönenden Abschluss, dass er sein Instrument hervorragend beherrscht, was in seinem Fall heißt, dass er ein toller Trommler ist.

Mit "Living Proof" präsentiert die Band als finale Zugabe – alle "Live Dates"-Songs wurden bereits im regulären Set gespielt – eine gelungene Version ihres Ohrwurms aus dem 1980er-Album "Just Testing". Einziger Wermutstropfen: Andy Powell, an diesem Abend in guter Stimmverfassung, erreicht (nach 44 Jahren verständlicherweise) nicht ansatzweise die Gesangsqualität der Studioaufnahme. Dafür entschädigen er und Mark Abrahams mit genial gespieltem Riff und Solo.

Epische Longtracks als Konzerthöhepunkte

Das Publikum revanchiert sich bei den (zu Recht) strahlenden Künstlern für die überzeugende Performance mit langem Beifall. Meine vier Höhepunkte des Abends: Die gitarrensolihaltigen Epen "The King Will Come", "Warrior", "The Pilgrim" und "Phoenix". Sagt das mehr über meinen Musikgeschmack aus als über die Bandperformance? Ich glaube nicht, da es der Großteil des Publikums ähnlich zu sehen scheint und diesen vier Songs meiner (dezibelmesserfreien und somit möglicherweise irrigen) Einschätzung nach den längsten Applaus spendiert.

Wer Wishbone Ash noch nicht live gesehen hat, sollte es entweder jetzt tun oder spätestens im nächsten Jahr, wenn hoffentlich wieder das Motto "If it's January, it's Germany" gilt. Wer es nicht tut, verpasst – unabhängig davon, ob der musikalisch breit aufgestellte Frontmann Andy Powell diese Bezeichnung als Kompliment versteht oder nicht – die ungekrönten Prinzen des Prog Rock.

Setlist:

  1. Real Guitars Have Wings
  2. We Stand as One
  3. The King Will Come
  4. Warrior
  5. Throw Down the Sword
  6. Rock 'n Roll Widow
  7. Ballad of the Beacon
  8. Baby What You Want Me to Do (Jimmy-Reed-Cover)
  9. The Pilgrim
  10. Blowin' Free
  11. Jail Bait
  12. Lady Whiskey
  13. Phoenix

Zugabe:

  1. Sometime World
  2. Living Proof

Fotos

Freiburg, Jazzhaus, 2024 Prog-Rock-Epen, AOR-Ohrwürmer und ein Blues-Ausflug: Andy Powell und seine Bandkollegen überzeugen in Freiburg mit einer abwechslungsreichen, nostalgietrunkenen Setlist und viel Spielfreude.

Prog-Rock-Epen, AOR-Ohrwürmer und ein Blues-Ausflug: Andy Powell und seine Bandkollegen überzeugen in Freiburg mit einer abwechslungsreichen, nostalgietrunkenen Setlist und viel Spielfreude., Freiburg, Jazzhaus, 2024 | © laut.de (Fotograf: Dennis Rieger) Prog-Rock-Epen, AOR-Ohrwürmer und ein Blues-Ausflug: Andy Powell und seine Bandkollegen überzeugen in Freiburg mit einer abwechslungsreichen, nostalgietrunkenen Setlist und viel Spielfreude., Freiburg, Jazzhaus, 2024 | © laut.de (Fotograf: Dennis Rieger) Prog-Rock-Epen, AOR-Ohrwürmer und ein Blues-Ausflug: Andy Powell und seine Bandkollegen überzeugen in Freiburg mit einer abwechslungsreichen, nostalgietrunkenen Setlist und viel Spielfreude., Freiburg, Jazzhaus, 2024 | © laut.de (Fotograf: Dennis Rieger) Prog-Rock-Epen, AOR-Ohrwürmer und ein Blues-Ausflug: Andy Powell und seine Bandkollegen überzeugen in Freiburg mit einer abwechslungsreichen, nostalgietrunkenen Setlist und viel Spielfreude., Freiburg, Jazzhaus, 2024 | © laut.de (Fotograf: Dennis Rieger) Prog-Rock-Epen, AOR-Ohrwürmer und ein Blues-Ausflug: Andy Powell und seine Bandkollegen überzeugen in Freiburg mit einer abwechslungsreichen, nostalgietrunkenen Setlist und viel Spielfreude., Freiburg, Jazzhaus, 2024 | © laut.de (Fotograf: Dennis Rieger) Prog-Rock-Epen, AOR-Ohrwürmer und ein Blues-Ausflug: Andy Powell und seine Bandkollegen überzeugen in Freiburg mit einer abwechslungsreichen, nostalgietrunkenen Setlist und viel Spielfreude., Freiburg, Jazzhaus, 2024 | © laut.de (Fotograf: Dennis Rieger) Prog-Rock-Epen, AOR-Ohrwürmer und ein Blues-Ausflug: Andy Powell und seine Bandkollegen überzeugen in Freiburg mit einer abwechslungsreichen, nostalgietrunkenen Setlist und viel Spielfreude., Freiburg, Jazzhaus, 2024 | © laut.de (Fotograf: Dennis Rieger) Prog-Rock-Epen, AOR-Ohrwürmer und ein Blues-Ausflug: Andy Powell und seine Bandkollegen überzeugen in Freiburg mit einer abwechslungsreichen, nostalgietrunkenen Setlist und viel Spielfreude., Freiburg, Jazzhaus, 2024 | © laut.de (Fotograf: Dennis Rieger) Prog-Rock-Epen, AOR-Ohrwürmer und ein Blues-Ausflug: Andy Powell und seine Bandkollegen überzeugen in Freiburg mit einer abwechslungsreichen, nostalgietrunkenen Setlist und viel Spielfreude., Freiburg, Jazzhaus, 2024 | © laut.de (Fotograf: Dennis Rieger) Prog-Rock-Epen, AOR-Ohrwürmer und ein Blues-Ausflug: Andy Powell und seine Bandkollegen überzeugen in Freiburg mit einer abwechslungsreichen, nostalgietrunkenen Setlist und viel Spielfreude., Freiburg, Jazzhaus, 2024 | © laut.de (Fotograf: Dennis Rieger) Prog-Rock-Epen, AOR-Ohrwürmer und ein Blues-Ausflug: Andy Powell und seine Bandkollegen überzeugen in Freiburg mit einer abwechslungsreichen, nostalgietrunkenen Setlist und viel Spielfreude., Freiburg, Jazzhaus, 2024 | © laut.de (Fotograf: Dennis Rieger)

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2 Kommentare mit einer Antwort

  • Vor 9 Monaten

    Ich gebe es zu, ich habe es auch erst gerade nachgeschlagen: der Begriff Progressive Rock stammt aus dem Klappentext der LP Caravan der Band Caravan von 1968, wurde also tatsächlich nicht vom Musikjournalismus sondern kam aus der Szene selbst.
    Ich sehe ehrlich gesagt keine Verbindung zwischen Wishbone Ash und dem Progressive Rock. Macht aber nichts, ich mag die erste Platte und die Argus sehr, die Pilgrimage fällt schon ab und danach habe ich schnell das Interesse verloren.
    Aber schön zu wissen, dass sie gerade Touren und nächste Woche bei mir in der Nähe auftreten. Das schaue ich mir doch vielleicht mal an….

    • Vor 9 Monaten

      Ja, stimme zu. Das Debut war richtig gut; und mit Argus legten sie noch eine gute Schippe drauf.
      Leider gab es dann verschiedene Umbesetzungen, und immer wieder mal der ein oder andere Song war dann gut anhörbar.
      Dass nun der Gitarrtist und Mitbegründer singt ist eine zwangsläufige Erscheinung; damit besteht dann eine gewisse Konstanz. Aber bei dem Timbre ergeht es mir wie bei Liam Gallagher- die viertel Note, die daneben gelegen wird, ist die die mir im Gehör weh tut. Dadurch nicht anhörbar.

  • Vor 9 Monaten

    Hab Sie vor grob 50 Jahren das letzte Mal gesehen.
    Das Freiburgkonzert war super und die Kritik traf genau das Empfinden des Publikums.