laut.de-Kritik
Get ready for love: Das Album, auf das alle gewartet haben.
Review von Michael SchuhAbsurd lange ließ uns Nick Cave im Wunsch nach einem Live-Album zappeln. Seit Jahren schon folgt eine großartige Tour auf die nächste und zeigt seine Bad Seeds in durchgehend bestechender Form. Doch alles, was der Australier seinem darbenden Volk zugedachte, waren vor einer halben Ewigkeit vier Songs auf der EP "Distant Sky: Live in Copenhagen". Im Nachgang seines selbsttherapeutschen Albums "Skeleton Tree" suchte er seit 2017 stets das unmittelbarere Medium zu seinen Fans und veröffentlichte von besagter Kopenhagen-Show einen gleichnamigen Film oder Dokus wie "This Much I Know To Be True" über seine kreative Beziehung zu Warren Ellis.
Schwer zu sagen, was ihn nun umgestimmt hat, vielleicht hatte es damit zu tun, dass Bassist Martyn Casey, neben Drummer Wydler Caves längster Bad Seeds-Mitstreiter, für die Aufnahmen zu "Wild God" und die sich anschließende Tour wegen Krankheit nicht zur Verfügung stand. Sicher keine Entscheidung gegen Casey, dessen Spiel Radiohead-Bassist Colin Greenwood hier perfekt variiert, sondern für die beeindruckende Sogkraft des aktuellen Materials.
Der 68-Jährige Cave wird von seinen Fans schon lange als Heiliger verehrt, und seit "Wild God" erledigt ein Gospelchor den Rest. Erwartungsgemäß präsentiert sich "Live God" als Liturgie des gesungenen Wortes und bietet die schönste Kirchentagsmusik, die man sich vorstellen kann. Von allen Songs geht eine Wärme und Aufrichtigkeit aus, Cave nennt es Transzendenz, wie sie nur späte Karriereabschnitte von Musiker*innen bereithalten. Eine Weisheit, die Cave in den 90er Jahren als Studiogast an Johnny Cash ("Cindy") beobachtete und nun selbst umsetzt.
Der ruhelos-brachialen Unbekümmertheit seines 1993er Albums "Live Seeds" schmettert "Live God" mit geerdeter Gravitas entgegen. Aus dem Düsterblues-Sänger ist ein Grenzgänger zwischen Licht und Schatten geworden, dessen Seelenreinigungslektionen sein Publikum die Intensität von Soul und Rock'n'Roll spüren lässt. Dies gelingt zum einen aufgrund seiner hypnotisierenden Ausstrahlung, aber auch, weil Cave seinen Unterhaltungsauftrag im Gegensatz zu vielen Rock-Legenden darin sieht, vor wildfremden Menschen an einer Art persönlicher Erlösung durch Musik zu arbeiten, indem er sich verletzlich zeigt und von Schmerz singt, um dessen Überwindung es am Ende im Leben geht.
Uneingeweihte treffen hier auf eine Musik, die nicht ohne Grund mittlerweile vorwiegend in Residenzschlössern und ähnlichen Baudenkmälern stattfindet. Man fühlt sich umgehend besser, wenn man diese Musik hört, jedenfalls nicht mehr allein. Von einem "spiritual groove" sang Cave 2013 im "Higgs Boson Blues", und damit wären wir auch beim ewigen Streitthema Setlist angekommen. Natürlich grenzt das Fehlen von bis vor kurzem noch unverzichtbaren Klassikern wie "The Mercy Seat, "Jubilee Street" oder "Jack The Ripper" an Ketzerei. Aber irgendein Opfer muss man für die neuen "Wild God"-Songs eben bringen und "Live God" ist alles andere als eine Selbstsabotage.
Spätestens wenn der Chor der Gospelsängerinnen in der Mitte von "Wild God" die Zeile "Bring your spirit down" schmettert, ist alles vergeben und verziehen. Es sind einige solch gewaltiger Ausbrüche auf "Live God" vertreten, Protagonistin des Albums ist aber die unvergleichlich wabernde Wall Of Sound, für die die Bad Seeds mittlerweile bekannt sind. Caves Band kredenzt uns damit eine wohltuende Entschleunigung in einer Zeit der Reizüberflutung, die auf einer zweitene Ebene durchaus auch mit Caves ausgleichendem Charakter in Haltungsfragen korrespondiert.
Fallen doch heute fast schon eher diejenigen Künstler*innen auf, die sich eben nicht an den von Social Media getriggerten Virtue-Signalling-Empörungsritualen um Gaza und andere Weltbränden beteiligen. "Live God" lässt dieser völlig aufgeheizten Szenerie mit Ansage die Luft raus und funktioniert als Mantra der Hoffnung.
Die Figur Cave, und das ist eigentlich das Schönste daran, steht währenddessen nicht oberlehrerhaft und unerreichbar auf einem Podest. Sogar zu einem selbstironischen "Put your hands in the air" lässt sich der Mann mittlerweile herab, um alle im Saal mitzunehmen, bleibt aber gleichzeitig der stilsichere Nachfolger von Bryan Ferry. Großartig! "He's a ghost, he's a god, he's a man, he's a guru" singt er in "Red Right Hand", dem 30 Jahre alten Lied von "Let Love In" und der tosende Applaus nach jedem Song lässt erahnen, an wen sein Publikum heutzutage bei dieser Zeile denkt.
"Live God" ist ein voluminös in Szene gesetztes Spektakel. Selbst im Original eher unscheinbare Lieder wie "Conversion" wachsen hier innerhalb von sechs Minuten über sich hinaus und ändern gefühlt mehrmals ihren Aggregatszustand. "Long Dark Night" ist in seiner existenziellen Dringlichkeit sämtlicher Zeit enthoben und klingt bereits jetzt wie ein Klassiker aus dem großen Songbook der Cohens und Bolans, denen Cave nacheifert.
Man kann das alles in Ruhe genießen und sich auf die gerade bekannt gegebenen Bad-Seeds-Konzerte im kommenden Jahr freuen. Man hat aber auch viel Zeit über Fragen zu sinnieren, während man dieses Album hört. Zum Beispiel: Warum sollte man lieber 68 Jahre alt sein wollen, wenn man auch 28 sein kann? In seinen "Red Hand Files" würde Nick Cave wohl sowas antworten wie: Weil man mit 68 mehr schöne Erinnerungen hat. Und mit dem Rest wird man besser fertig. Get ready for love.


1 Kommentar
...mich nervt seit einiger Zeit seine überbordende Theatralik sowie der Personenkult, der um ihn betrieben wird - so dass ich zum letzten Gig nach Oberhausen nur widerwillig "mitgeschleppt" wurde.
Der Song "Wild God" hat mich allerdings in Gänze dermaßen umgeblasted, dass ich mit offenem Mund zurückblieb - das war phänomenal...daher freue ich mich über dieses Album dann doch!