laut.de-Kritik

Halb Narbe. Halb offen stehende Wunde.

Review von

Eigentlich braucht Nick Cave keine Einleitungen mehr. Eigentlich steht er für sich selbst. Als Messias. Als Mythos. Als Überlebender des bis an alle Grenzen führenden Exzess. Als Arbeitstier. Als Autormaschine. Und eigentlich würden wir jetzt einzig und allein über Musik sprechen. Über "Skeleton Tree", als für sich allein stehendes, musikalisches Werk. Doch dann verunglückte Nick Caves 15-jähriger Sohn Arthur tödlich. Eine Tragödie, die alles in den Schatten stellte und deren Schatten Nick Cave zu ersticken drohte. Die Aufnahme am bereits 2014 begonnenen Album stoppten. Genauso wie die Zeit, die fortan nur noch in Zeitlupe tropfte.

Keiner wusste ob und wie es mit den Bad Seeds weiter gehen würde. Konnte. Durfte. Sollte. Dann erreichte Warren Ellis ein Anruf seines langjährigen Wegbegleiters Cave. Eine ins iPhone gesungene Variante des Songs "Skeleton Tree" war das Signal: Wir machen weiter. Irgendwie. Aber anders. Tief drin im erbarmungslosen Schmerz, dem Nick Cave, der täglich an seinem Schreibtisch sitzt und schreibt und schreibt und schreibt, nur durch Schaffen beikommen konnte. Als Reinkarnation seiner selbst. Als Lazarus. Sich selbst aus der Dunkelheit schaufelnd, einmal mehr. Und jetzt liegt es da. Das Album. Halb Narbe. Halb offen stehende Wunde.

Es dröhnt bedrohlich zu Beginn von "Jesus Alone". Wie ein Donnergrollen, das einen nahenden Sturm ankündigt. Alles reibt und schiebt und kratzt vor sich hin, die sich aufladende Energie verspricht sich jede Sekunde zu entladen. Dazu spricht Nick Cave als ausgezehrter Prophet. "You believe in God, but you get no special dispensation for this belief now / You're an old man sitting by a fire, hear the mist rolling off the sea / You're a distant memory in the mind of your creator, don't you see?" Dann wird die bloße Stimme zu Gesang und das schäbige Kratzen für Sekundenbruchteile zur reinen, hell erleuchteten Melodie. "With my voice / I am calling you / Let us sit together until the moment comes".

Cave hat sich stetig an der überbordenden Symbolik und den Ritualen des Christentums bedient und zersetzte seine Fundstücke in dystopischen Parallelwelten, die noch blutiger und grausamer erschienen als die fundamentalistischen Vorlagen selbst (vgl. "Und die Eselin sah den Engel"). In "Jesus Alone" aber wird er vollends zum mahnenden Zweifler. Hoffnung? Nur ein kaum sichtbarer Streif am Horizont.

Der Bruch erfolgt bereits in Song Nummer zwei. Wie ein Nordlicht leuchtet das kosmische Soundsample auf, das "Rings Of Saturn" fortan auf seine Schultern nimmt und die drohende Schwärze mit ungeahnter Leichtigkeit für circa drei Minuten erleuchtet. Dazu ein flirrender "Oho"-Chor, verschrobene Streicher. Ein reiner, ungefilterter, fast euphorischer Song: "This is exactly what she is born to be!" Die beiden eröffnenden Stücke, so unterschiedlich sie klingen, bleiben zunächst Fragment. Ausgelegte Spur. Abgebrochener Versuch.

Erst "Girl In Amber" weist wirkliche Songstrukturen auf. Steigert sich, nimmt sich zurück, wechselt Tonalität und Tempo. Und plötzlich passiert eine Wandlung, die einem das Blut regelrecht in den Adern gefrieren lässt. Da nämlich knickt die Stimme des Australiers, die über Jahrzehnte und Epochen als unverrückbares Monument stand, kaum hörbar ein. Nick Cave klingt erstmals alt. Oder zerbrechlich. Oder einfach nur anders. Wir werden Zeuge eines schonungslosen Zusammenbruchs. Wie zur Unterstützung greift ihm ein fast mythischer Chor unter die Arme. Tonnenschwere Trauer, die auch auf dem anschließenden, absolut grandiosen "Magneto" anhält. Nick Cave macht den Anschein eines angeschossenen Westernheldens. Und es wird deutlich, welche Überwindung es gekostet haben muss, sich an dieser Stelle der Öffentlichkeit auszusetzen.

Andrew Dominik, Regisseur des gestern weltweit gezeigten Dokumentarfilms "One More Time With Feeling" gab in einem Interview mit den Salzburger Nachrichten zumindest einen kurzen Einblick hinter die Kulissen: "So vieles auf dieser neuen Platte hat mit Arthurs Tod und der Trauer um ihn zu tun, und er müsste in Interviews über den Kontext reden, in dem diese Songs entstanden sind. (...) Dieses Trauma ist noch jenseits aller formulierbaren Gefühle." Dazu rückt Dominik den schieren Entstehungsprozess ins Zentrum. Klassisches Songwriting haben Ellis und Cave längst hinter sich gelassen. Es geht um Konfrontation, um das Aufgeben aller Sicherheiten.

Darum klingen die Bad Seeds seit der ersten Grinderman-Veröffentlichung 2007 härter, roher und unvorhersehbarer. Wirkliche Hymnen, die Platten wie "No More Shall We Part" in den Meilenstein-Status erhoben, gibt es nicht mehr. Unterm Strich und entgegen aller Brüche wirkt "Skeleton Tree" aber doch phasenweise wie ein logischer Nachfolger von "Push The Sky Away".

Die zweite Hälfte beginnt mit "Anthrocene" total antimelodisch, weiß rauschend, im Kollaps. Aus dem Nebel aber schälen sich die Umrisse unseres vermeintlich gefallenen Helden, dessen wiedergeborene Stimme nun wieder mit dem gewohnten Biss und dieser autoritären Gravitas vibriert. "It's a long way back / Come home now". Der zuvor angedeutete Johnny Cash-"American Recordings"-Vibe verfliegt, der Anzugträger greift wieder zur Waffe. Wir erstarren (vielleicht aus Prinzip) im Kollektiv.

Auch mit "I Need You", das abermals das Momentum verschiebt und in fast hypnotischen Loops rotiert, bleibt "Skeleton Tree" unfassbar engmaschig verwoben und verzahnt. Der aufsteigende Staub wirbelt so dicht, dass man ihn wie einen Kuchen zerteilen und am Schopfe packen möchte und dann doch scheitert. Während auf Soundebene kaum mehr Sauerstoff zum Atmen bleibt, erscheint uns auf Textebene das finale Produkt, die Quintessenz. "Nothing really matters. I need you!"

Vor dem großen Finale zeigt sich der "Skeleton Tree" noch einmal versöhnlich. Von einer Kirchenorgel und vereinzelten Pianoanschlägen getragen, entfaltet sich "Distant Sky". Eine Erlösung? Zumindest Traumsequenz inmitten des Traumas, in der aus dem Nichts die glockenklare Frauenstimme der dänischen Sopranistin Else Torp erscheint. Sie tritt in einen Dialog mit dem Frontmann, der uns kurzzeitig an die weltberühmten Duette mit Kylie Minogue und PJ Harvey erinnert und dann so zurückgenommen erlischt, wie er zuvor aufflammte.

Dann bleibt nur noch das Titelstück, das beinahe drohend vom Albumende grüßt. "Skeleton Tree" erscheint überraschenderweise als das wohl typischste Nick-Cave-Stück. Durchdringend melodisch, melancholisch, mal von schlichter, mal von raumgreifender Schön- und Dunkelheit. Und so entlässt uns das Album nach einer faszinierenden Reise von fast körperlich anstrengender Intensität ins innerste Innen zumindest mit einem Schuss angedeuteter Normalität. Es braucht kein Fazit, keine Zusammenfassung, kein umgreifendes Urteil. "And it's alright now / And it's alright now / And it's alright now ..."

Trackliste

  1. 1. Jesus Alone
  2. 2. Rings Of Saturn
  3. 3. Girl In Amber
  4. 4. Magneto
  5. 5. Anthrocene
  6. 6. I Need You
  7. 7. Distant Sky
  8. 8. Skeleton Tree

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