laut.de-Kritik

"Tom Petty, du wirst heute Nacht nicht schlafen!"

Review von

Es ist furchteinflößend, dieses Gefühl, keine Frage. Vor mir liegt ein Pearl Jam-Livepaket namens "Live At The Gorge 05/06", das ich besprechen soll. Umfang: Sieben CDs, exakt 100 Songs, gespielt auf drei Konzerten 2005 und 2006, immer an ein und demselben Ort, einem der/die/das Gorge, vorgetragen von einer der besten Rockbands unserer Zeit (sagen ältere Semester) mit einem der charismatischsten Sänger unserer Zeit (sagen Journalisten, denen nix anderes einfällt).

Beim erneuten Durchlesen des letzten Satzes ist eigentlich zuerst mal die Definition des Begriffs Zeit interessant, wie eine selbst erlebte und hier leicht gekürzte Anekdote aus dem öffentlichen Konstanzer Straßenverkehr zur Headliner-Position der Band auf dem Southside Festival verdeutlichen soll.

Teenie 1: "Gehste auch aufs Southside? Spielen ja Hammer-Bands!" Teenie 2: "Klar, Bloc Party und Manson, wird super! Nur von diesem einen Headliner hab ich noch nie was gehört, Pearl Jam." Teenie 1: "Nö, ich auch nich!".

Vor Ort auf der schwäbischen Alb zeichnete sich das Bekanntheitsgefälle der Band bei der Tauschbörsengeneration dann dergestalt ab, als dass zunächst partout keine Stimmung aufkommen wollte, trotz des eigentlich mächtigen Starts mit "Go", "Do The Evolution" und "Animal".

Erst mit dem Bekenntnis zum Gaspedal erspielten sich die Grunge-Rocker im Laufe des Sets die Gunst der Festivalcrowd und spätestens bei "Alive" und "Even Flow" in den Zugaben lagen sich alle in den Armen.

Dies kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Pearl Jam-Alben im aktuellen Jahrzehnt keine Kassenmagneten mehr darstellen. Das Quintett aus Seattle scheint sich vielmehr - wie einst das große Idol Neil Young nach "Harvest" - in einer kommerziell mäßig aufregenden, künstlerisch aber recht fruchtbaren Übergangsphase zu befinden, die so lange Bestand haben wird, bis irgendwann die Naturgewalten eines Revivals der (jungen) Öffentlichkeit den Blick auf den reichhaltigen Grungerock-Wissenskanon (auf iTunes) über Nacht freimachen.

Bis dahin muss Eddie Vedder nach heutigem Stand noch einige Flaschen Rotwein auf den Bühnen dieser Welt öffnen, was ihm übrigens mit wiedererlangter Bonvivant-Lockenpracht und kauzigem Stoppelbart-Look weitaus besser steht, als etwa dem bleichen Conor Oberst, bei dem jene Stimulanzien gewöhnlich statt Zusatz-Adrenalin Laberflashs mobilisieren.

Aber zurück zur eingangs beschriebenen Rezensionsfurcht, die ich bis hierher ja noch einigermaßen im Taschenspieler-Style mit schwammigen Produkten meiner Phantasie vor euch verbergen konnte, die sich aber noch immer aus dem sicheren Wissen speist, dem zehn Meter langen Tracklist-Kasten niemals eine adäquate Masse an Zeichen entgegen setzen zu können.

Aber hilft ja nix. Also: Die Gorge ist eine Felsschlucht am Rande des Columbia Rivers, die etwa 200 Kilometer östlich von Pearl Jams Heimat Seattle verläuft und in einem Tal liegt, das den Bundesstaat Washington weitgehend vom Nachbarn Oregon abgrenzt. Das dort platzierte 25.000 Mann-Freiluftareal zwischen Fluss, Steilfelsen und Gerölllandschaft wird in Umfragen seit Jahren immer wieder zum schönsten Outdoor-Festival Nordamerikas gewählt.

Ein Platz also, wie geschaffen für Rock'n'Roll-Naturburschen der Sorte Pearl Jam, deren Lieblingscoverversion "Rockin' In The Free World" wohl nur an wenigen anderen Orten der Welt in einem passenderen Ambiente hinausgeschrien werden kann. Auch wenn diese berühmte Zeile jemand missverstanden haben muss, da dieses idyllische Fleckchen Erde demnächst Nickelback entweihen werden.

Und falls es noch jemanden interessiert: Natürlich sind die auf sieben CDs versammelten Konzerte vom 1. September 2005, dem 22. Juli 2006 und dem 23. Juli 2006 allesamt absolut hörenswert und lassen kaum Kritikpunkte zu, selbst wenn einige Songs naturgemäß doppelt vertreten sind. Schon der Dumpingpreis von rund 32 Euro für siebeneinhalb Stunden Musik spricht eine deutliche Sprache.

Wie es der Zufall will, sind die drei Gorge-Shows die am häufigsten heruntergeladenen Shows, seitdem die Amis 2005 mit dem Verkauf ihrer digitalen Bootlegs begannen. Das mag für die fanorientierte Service-Band Pearl Jam Grund genug für eine Veröffentlichung sein, ihr Stammlabel SonyBMG dürfte dagegen dem Himmel gedankt haben, dass dieses unrentable Unterfangen der Konkurrenz aufgebürdet wurde.

Würde ich zu einem Ranking der vorliegenden Konzerte gezwungen, müsste ich den 37 Songs langen 2005er Gig aufs Siegertreppchen hieven, der nicht nur mit der Ramones-Hymne "I Believe In Miracles" unüblich startet, sondern auch mit einem gut aufgelegten Eddie Vedder. Morgen und übermorgen spiele hier an Ort und Stelle "der großartige Tom Petty", steckt er den Fans und da dessen Hotel nicht weit entfernt läge und er alles hören könne, wolle man ihm nun ein bisschen "sunset music" kredenzen, aber eines sei auch klar: "Tom, du wirst heute Nacht nicht schlafen!" Laute Riffattacken bleiben jedoch erstmal Fehlanzeige, dafür gibts Balladen-Killer wie "Elderly Woman ..." aka "Small Town", "I Am Mine" oder "Off He Goes", in dem sich Vedder herrlich versingt.

Hauptgrund für die Download-Attraktivität der Gorge-Bootlegs dürften neben der besonderen Atmosphäre indes die dort vorgetragenen Live-Raritäten gewesen sein: "Crazy Mary" (vom Tribute für Victoria Williams 1993), die Fanclub-Weihnachtssingle "Crown Of Thorns" oder der grandiose Funkbrecher "Dirty Frank"; es fehlt eigentlich an nichts. Zaungast Petty darf sich schließlich über eine halbakustische Version seines Songs "I Won't Back Down" freuen, das im Verbund mit den textsicheren Zuschauern den bei Pearl Jam-Konzerten obligatorischen Gänsehaut-Faktor liefert.

"Yellow Ledbetter", die B-Seite von "Jeremy" und Stammnummer im PJ-Liveset, darf nur beim 2005er Konzert nicht den Rausschmeißer spielen. Dort nötigen sie uns den Who-Heuler "Baba O'Riley" auf, der mich nach wie vor nicht berührt. Falsche Generation. Die Fans singen dagegen begeistert mit. So fühlten sich also die Kids neulich beim Southside.

Überhaupt, die Pearl Jam-Fans: Ein Herz aus Stahl müssen all jene besitzen, denen es bei den den lautstarken Publikums-Chören, initiiert vom großen Dramatiker Vedder, nicht eiskalt den Rücken runter läuft. "Animal", "Even Flow" und "Better Man" (alle 23.6.) sind solche herzzerreißenden Beispiele. "Rats" und "Do The Evolution" die in Stein gemeißelten Belege dafür, dass Pearl Jam als Rockband auch für die nächsten zwanzig Jahre unverzichtbar sind. Zumal mit solch lockeren Sprüchen vom Chef: Sein lockeres Outfit sei der Hitze geschuldet und nicht etwa ein Versuch "to restart grunge fashion", so Vedder.

Äh, habe ich etwa die Tracklist eingeholt? Dabei werde ich doch gar nicht nach Zeichen bezahlt. Trotzdem muss noch die Leistung Vedders hervor gehoben werden, ernste, politische Themen ohne besserwisserischen Gestus auf der einen oder ekelerregendes Pathos auf der anderen Seite vorzubringen. Man höre nur seinen Appell an die Soldaten im Mittleren Osten vor "Army Reserve". Das bekäme Bono nicht mal mit nem Manuskript hin. Das solls jetzt aber gewesen sein. Ich glaube es ist alles gesagt. Hardcore-Fans, belehrt mich im Forum!

Trackliste

Sept. 1st 2005 (1)

  1. 1. I Believe In Miracles
  2. 2. Small town
  3. 3. Off He Goes
  4. 4. Low Light
  5. 5. Man Of The Hour
  6. 6. I Am Mine
  7. 7. Crazy Mary
  8. 8. Black
  9. 9. Hard To Imagine

Sept. 1st 2005 (2)

  1. 1. Given To Fly
  2. 2. Last Exit
  3. 3. Save You
  4. 4. Do The Evolution
  5. 5. Alone
  6. 6. Sad
  7. 7. Even Flow
  8. 8. Not For You
  9. 9. Corduroy
  10. 10. Dissident
  11. 11. MFC
  12. 12. Undone
  13. 13. Daughter
  14. 14. In My Tree
  15. 15. State Of Love And Trust
  16. 16. Alive
  17. 17. Porch

Sept. 1st 2005 (3)

  1. 1. Encore Break
  2. 2. Love Boat Captain
  3. 3. Insignificance
  4. 4. Better Man
  5. 5. Rearviewmirror
  6. 6. I Won't Back Down
  7. 7. Last Kiss
  8. 8. Crown Of Thorns
  9. 9. Blood
  10. 10. Yellow Ledbetter
  11. 11. Baba O'Riley

July 22nd 2006 (1)

  1. 1. Wash
  2. 2. Corduroy
  3. 3. Hail Hail
  4. 4. World Wide Suicide
  5. 5. Severed Hand
  6. 6. Given To Fly
  7. 7. Small town
  8. 8. Even Flow
  9. 9. Down
  10. 10. I Am Mine
  11. 11. Unemployable
  12. 12. Daughter
  13. 13. Gone
  14. 14. Black
  15. 15. Insignificance
  16. 16. Life Wasted
  17. 17. Blood

July 22nd 2006 (2)

  1. 1. Encore Break
  2. 2. Footsteps
  3. 3. Once
  4. 4. Alive
  5. 5. State Of Love And Trust
  6. 6. Crown Of Thorns
  7. 7. Leash
  8. 8. Porch
  9. 9. Last Kiss
  10. 10. Inside Job
  11. 11. Go
  12. 12. Baba O'Riley
  13. 13. Dirty Frank
  14. 14. Rockin' In The Free World
  15. 15. Yellow Ledbetter

July 23rd 2006 (1)

  1. 1. Severed Hand
  2. 2. Corduroy
  3. 3. World Wide Suicide
  4. 4. God's Dice
  5. 5. Animal
  6. 6. Do The Evolution
  7. 7. In Hiding
  8. 8. Green Disease
  9. 9. Even Flow
  10. 10. Marker In The Sand
  11. 11. Wasted Reprise
  12. 12. Better Man
  13. 13. Army Reserve
  14. 14. Garden
  15. 15. Rats
  16. 16. Whipping
  17. 17. Jeremy
  18. 18. Why Go

July 23rd 2006 (2)

  1. 1. Encore Break
  2. 2. I Won't Back Down
  3. 3. Life Wasted
  4. 4. Big Wave
  5. 5. Satan's Bed
  6. 6. Spin The Black Circle
  7. 7. Alive
  8. 8. Given To Fly
  9. 9. Little Wing
  10. 10. Crazy Mary
  11. 11. Comatose
  12. 12. Fuckin' Up
  13. 13. Yellow Ledbetter

Preisvergleich

Shop Titel Preis Porto Gesamt
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Pearl Jam – Live at the Gorge 05/06 €244,06 Frei €247,06

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Pearl Jam

Am Anfang steht ein tragischer Todesfall: Andrew Wood, Sänger der Band Mother Love Bone, der auch Stone Gossard (geboren am 20. Juli 1966) und Jeff Ament …

30 Kommentare

  • Vor 17 Jahren

    Hab das Album seit dem Erscheinungstermin (22.06.2007) und seither läuft die 7 Silberlinge rauf und runter. Einfach phantastisch was die "Alt-Rocker" hier bieten. Da sollten sich die meisten möchtegern Rocker der heutigen Generation eine gehörige Scheibe abschneiden. Und falls ihr meint ich bin ein Altersack der nur in Nostalgie verfählt darf ich anmerken, dass ich 21 bin und trotzdem die Musik der späten 80er und frühen 90er jeder neuen Linkin Park, Stone Sour usw. vorziehe.
    Für mich eigentlich unverständlich warum es für diese Livesammlung keine 5 Punkte von der Redaktion bekommt.
    Zum Abschluss bleibt mir nur noch zu sagen. Pearl Jam you are still alive!

  • Vor 17 Jahren

    Habe die CDs leider erst gestern abend hören können, was dazu führte das ich die Nacht nicht geschlafen habe! Nach dem Konzert am 21.06 in D-Dorf war das CD-Pack genau das richtige um wieder und wieder die Pearl-Jam-typische Gänsehaut hervorzurufen!
    Und ich bin ebenso wie mein Vorredner kein Altrocker sondern zarte 18 Jahre alt;)
    Pearl Jam you are still alive!
    Und zu dem Satz "Das bekäme Bono nicht mal mit nem Manuskript hin." sage ich nur folgendes: http://www.youtube.com/watch?v=PE15kXjp3kA

    /edit: man sollte auch noch das meiner meinung nach geniale Artwork erwähnen! Leider muss das CD-Pack ohne Release Me, Wishlist und Long Road auskommen trotzdem sind 5/5 Sterne das mindeste was man hier geben muss!

  • Vor 17 Jahren

    Um dieser abgef.... Jugend mal ordentlich in den Arsch zu treten, sollte jedem Neugeborenen dieses 7 CD Set in die Wiege gelegt werden. Kein Wunder das aus denen heute nichts wird - bei der aktuellen Musik. Mehr Rock, mehr Stimmung, mehr geile Songs geht hier einfach nicht. Pearl Jam könnten besoffen und nackig auftreten, es wäre immer noch mehr Stimmung da als bei anderen Bands. :)Beim Hurricane Festival haben Sie wieder gezeigt was Sache ist. Also liebe Eltern, investiert 30 € für eure Kinder - in die Zukunft.....

    Let´s rock it!

  • Vor 17 Jahren

    Die 90er sind tot - lang leben die 90er! :D

  • Vor 17 Jahren

    Ein Traum von einer "Live-Box" (um mal wieder das richtige Thema anzukratzen)

    Und, früher war nicht alles besser ;)

  • Vor 17 Jahren

    Ja das seh ich auch so! Nur damals war alles besser weil all die Grunge like Nirvana und PJ oder Soundgarden hörten, schwere Kiffer waren und der Höhepunkt war das sich Kurt die Schädel wegballerte. Aber die richtige geilen Bands in den 90 er waren Rage against the Machine, Ice T & Body Count und auch nicht zu vergessen war U2 Achtung Baby mit ZOO TV.
    Das vermisse ich heute irgendwie und deshalb gehe ich immer noch auf U2 oder Pearl Jam Konzerten. Wo man dann auch wieder sagen muss das diese dann auch gute Vorgruppen haben wie Snow Patrol oder Kings of Leon und Linkin Park ist ja auch nicht schlecht.
    Aber es ist richtig zwischen 17 und 23 wird man von der Musik geprägt, allerdings hört mein 10 jähiger Sohn Kiss, wharscheinlich wegen der Bemalung und meine Tochter steht halt auf den ganzen Dancescheiss und diese DSDS Mist, da muss ich wirklich mal mit Ihr reden.