laut.de-Kritik
Folkige Reiseberichte aus Kabul, Washington und dem Kosovo.
Review von Jeremias HeppelerEs ist eine verschollene und verlorene Welt, die PJ Harvey im eröffnenden Song "The Community Of Hope" nachzeichnet: "Switching down the Benning Road / The well-known pathway of death / At least that's what I'm told / And here's the one sit-down restaurant / In ward Seven, nice / Ok, now this is just drug town, just zombies / But that's just life."
Die Sängerin bringt in diesem Song, der mit seinen Country-Verweisen samt Springsteen-Flavour brutal amerikanisch klingt, persönliche Eindrücke ihrer Reise nach Washington DC zu Papier. Denn Washington ist nicht nur das metaphorische Politgesicht der westlichen Welt, sondern besitzt eben auch Gegenden, in denen der amerikanische Traum längst ausgeträumt ist. Das Weiße Haus wird konterkariert von heruntergekommenen, Ostküsten-typischen Armutsvierteln. Im abgeranzten Karren des Washington Post-Reporters Paul Schwartzman und in Begleitung eines Fotografen fuhr Harvey ins dunkle Herz der US-Hauptstadt und präsentiert uns nun ihren Notizen-Dschungel.
Auf das vorab veröffentlichte "The Community Of Hope" reagierten Lokalpolitiker empört und sahen sich zu Statements gegen den Song genötigt. Und plötzlich spürten wir wieder die Durchschlags- und Provokationskraft, die Musik und Kunst auch (oder gerade) 2016 noch besitzen kann. Denn Pop ist eben nicht nur ästhetische Ausdrucksform, sondern auch Medium der Reflektion und des Protests, ein abstrahierter Spiegel der Gesellschaft.
Nun könnte man einwenden, warum ausgerechnet die Britin PJ Harvey die amerikanischen Verhältnisse kommentiert, obwohl sie diese Gegend nach eigener Aussage nur gefiltert und vom Hörensagen kennt. Die Antwort ist zweigleisig: Zum einen dockt Harvey – wenn auch nur oberflächlich – direkt an gewichtige popkulturelle Werke wie "To Pimp A Butterlfy" von Kendrick Lamar oder David Simons Serienepos The Wire an. Zum anderen ist der Song nur der Startschuss zu einem furiosen Album. Im Zentrum stehen zwei Arten des Beobachtens: Da ist zunächst Harvey selbst, die als Flaneurin nach Washington, nach Kabul und in den Kosovo reiste. "I took a plane to a foreign land / And said I'll write down what I find": Als Grenzgängerin und Reporterin, die statt Artikel Songs schreibt. Ist das nun Journalismus-Pop? Reise-Rock? Enthnologie-Folk?
Dann drehte Harvey den Spiegel und beobachtete sich selbst. Für eine interaktive Museumsinstallation sperrte sie sich und ihre Band in einen speziellen Guckkasten mit Verhörraumtechnik, nur Außenstehende konnten PJ und Co. sehen, nicht umgekehrt. So entstand der Fragenkomplex: Wer beobachtet wen? Und wieso? Und wann? Sind wir alle Teil des Projekts? Oder nur Konsument? Dennoch beziehen sich ihre Washington-Eindrücke in erster Linie auf Aussagen ihres Tourguides Schwartzman, Harvey hat nicht tiefer gegraben. Glücklicherweise schürt die Musik tiefer als die skizzierten Beobachtungen.
"A Line In The Sand" ist ein waschechter Popsong: Zu undefinierbaren Soundschwaden gesellt sich die Kopfstimme einer mehr als gut gelaunten PJ. Die 46-Jährige klingt, als wäre sie in einen Jungbrunnen gefallen. Elektro-Beats mischen sich mit Samples, Streichern und fröhlichen Drums – wie eine Mischung aus St. Vincent und M.I.A. Aber wahrscheinlich klingen die ja nur so, weil sie früher PJ Harvey gehört haben. "The Hope Six Demolition Project" jedenfalls atmet den Zeitgeist mit vollen Lungen, ohne dabei aufgesetzt zu klingen. Ein fast dauerpräsentes Motiv auf dem Album sind Chöre, die ja für Hall und Pomp, für Dramatik und Größe stehen. Kein Wunder, dass sie derzeit vor allem Kanye West einsetzt. Harvey dagegen nutzt Chorstimmen eher als Untermalung oder lässt sie unbeteiligt im Hintergrund herum lungern.
"The Wheel" beginnt mit einem fröhlichen, eineinhalb Minuten langen Intro, dessen Konzeption mit all dem Klatschen an die Beatles erinnert. Dann aber taucht PJ aus der Tiefe des Raumes auf und verändert die Dynamik: "A revolving wheel of metal chairs / Hung on chains, squeling / Four little children flying out / A blind man sings Arabic". Die fast cineastische Szenerie kippt umgehend, wenn die Sängerin die nächste tragische Ausfahrt nimmt. "Hey little children don't disappear" und der Chor (wer sonst) antwortet: "I heard it was 28.000".
Die Ballade der verlorenen afghanischen Kinder konfrontiert sie mit scheinbar locker-leichtem Songwriting. Das irritiert, zeigt aber auch verschiedene Lesarten auf: Eine rein musikalische, die all die Geschichten ausblendet und eine diskursive, die PJ als Kunstfigur und ihre Reisen, Aussagen und Videos mitdenkt. So sitzt man am Ende ein wenig überfordert vor diesem Werk. In Sachen Komposition ist PJ Harvey über jeden Zweifel erhaben, auch wenn die beinah entspannten Klangwelten von "The Hope Six Demolition Project" nicht ganz an den überragenden Vorgänger "Let England Shake" heranreichen.
Wir hören Saxophon-Freejazz, von Beirut eingefärbten Folk, aufgetürmt zu atmosphärischen Bluesrock-Wellen. Die Texte aber hinterlassen einen dezent faden Beigeschmack, weil sie aus journalistischer Sicht nicht tiefgreifend genug sind (Stichwort: Elendstourismus). Dennoch eröffnet PJ Harvey mit dieser Albumidee neue Felder für den Pop. Und so ist es ihr Pioniergeist, der "The Hope Six Demolition Project" letztlich zu einem interessanten Werk macht.
5 Kommentare mit 5 Antworten
Richtig schönes Album. In der Rezension hätte man aber ruhig noch etwas mehr auf einige der Songs eingehen können. Grade Ministyr of Defence ist z.B ein äußerst interessanter Song.
kriege Ministry of Defence im Moment nicht mehr aus der Birne raus
Den Punkt mit den Elendstourismus habe ich schon paarmal gelesen. Mich stört diese journalistische Distanz nicht. Es gibt dem Album eine Ebene, sich selber damit zu beschäftigen. Musikalisch ihr wohl schwärzestes Album. Viele Call-and-Response-Gesänge aus dem Gospel, Blues, Jazz, sogar Hip-Hop-und Funkbeats. Zum Glück hat sie sich nicht wiederholt. Die letzten 3 Songs stechen im Gesamtbild noch etwas heraus. Das schmälert aber nicht die Klasse des gesamten Materials.
Zwei Durchläufe und beim zweiten dann auch erste "cleansing"-Momente hier. Die beiden Ministry-Songs (wie toni meinte - überhaupt die letzten drei Stücke) sowie "River Anacostia" weckten sofortiges Replay-Verlangen, gönne dem Album aber lieber noch einige Durchläufe am Stück.
Mir fehlt noch so der totale breakout über 2-3 Songs, aber PJ liefert. Auf gewohnt höchstem Niveau.
Nach zwei Durchläufen hält das Album was mir die Singles versprochen haben. Habe bisher keinen Ausfall ausmachen können, tolle Scheibe.
pj harvey? juckt dir die rille oder wirst du endlich erwachsen?
Lauti hat PJ überhaupt erst groß gemacht, sollte klar sein.
In seiner Gegend etabliert.
#nocontrolbesuche
Sodi, ganz lustige Masche von Dir.. da ich PJ seit 1995 durchgehend höre und feiere, bin ich schon seit 21 Jahren erwachsen? Troll woanders, bitte.
Bleibe dabei, rundes Ding. Fast so gut wie das Konzert 1995.. sehr naise.