laut.de-Kritik
Ein zu Unrecht vergessenes Pop-Juwel der 90er Jahre.
Review von Michael SchuhIm Mai 1993 ist der Boden bereitet für einen weiteren Höhepunkt in der Karriere von Shakespears Sister, zumindest aus der Sicht aller Außenstehenden. Bei den Ivor Novello Awards, einem renommierten Künstlerpreis, ist das Duo zweimal nominiert, der verdiente Lohn für ein gigantisches Erfolgsjahr mit dem Album "Hormonally Yours", der Hitsingle "Stay", dem dazugehörigen Kultvideo von Sophie Muller und der ausverkauften Europatournee.
Zu diesem Zeitpunkt wissen nicht einmal die Labelverantwortlichen, dass die beiden Protagonistinnen schon ein halbes Jahr nicht mehr miteinander gesprochen haben. Auch Sängerin Marcella Detroit kommt es am Abend in London nicht sonderlich verdächtig vor, dass sie backstage nirgendwo die Kollegin Siobhan Fahey antrifft, fehlte die doch schon bei der Brit-Awards-Verleihung ein paar Wochen zuvor. Auf eine Dankesrede für den erneuten Fall eines Erfolgs ist Detroit daher vorbereitet, bis sie erfährt, dass dies nicht notwendig sein würde.
Denn diesen Job übernehmen Faheys Verlegerin sowie ihr Ehemann Dave Stewart, die Detroit nebenbei noch darüber informieren, dass Fahey wegen einer Bandscheiben-OP im Krankenhaus weilt. So freut sich die Sängerin im Publikum über die Auszeichnung "Outstanding Contemporary Song Collection", bis Faheys Verlegerin die ihr ausgehändigte Dankesrede mit den Worten schließt: "Dir, Marcella, alles Gute für deine Zukunft. Ende gut, alles gut!"
Aus der Band geworfen zu werden bei einer Gala, während man selbst ahnungslos im Publikum sitzt, abgelesen von einer Fremden, landesweit live im TV übertragen: Eine Schmach, die das ursprüngliche Ende der Pixies plötzlich wie eine Bilderbuchtrennung erscheinen lässt. Frank Black informierte seine Kollegen bekanntlich per Fax. "You're history, that's what you are" sang Detroit nur drei Jahre zuvor, ohne zu ahnen, welch schicksalhafte Wendung diese Zeile noch nehmen würde.
Immerhin knapp fünf Jahre lang hielt die harmonische Yin-Yang-Balance innerhalb des Duos, genug für zwei Studioalben, dann übernehmen die Fliehkräfte. Nach wie vor ein Jammer angesichts dieser zwei großartigen Pop-Platten, wobei nur auf "Hormonally Yours" das Rock'n'Roll-Herz der Musikerinnen zu Tage tritt. Den Vorgänger "Sacred Heart" ummantelt noch der Produktionszeitgeist der 80er Jahre, fast alle Songs wurden im Studio programmiert. Zugleich ist das Debüt 1989 der gelungene Versuch der ehemaligen Bananarama-Sängerin Siobhan Fahey, dem belächelten Girlgroup-Image zu entfliehen. Und dies soll ursprünglich nicht in Form einer weiteren Girlband geschehen, schon gar nicht als Duo, versprechen doch weibliche Duos wie Mel & Kim oder Pepsi & Shirley seinerzeit keine langfristigen Karrieren. Fahey will es alleine schaffen.
Als erste Amtshandlung wählt sie einen Smiths-Song als Bandnamen (absichtlich ohne Genitiv-Apostroph), dann empfiehlt Ehemann Stewart eine flüchtige Bekannte aus den USA, die 1977 mit Eric Clapton gemeinsam "Lay Down Sally" komponiert hat: Marcella Detroit. Die agiert zunächst als Mietmusikerin im Hintergrund, weshalb das Album-Artwork allein Fahey ziert. Doch die Zusammenarbeit der gegensätzlichen Künstlerinnen fruchtet, ab der Single "You're History" ist Detroit auch in den Videos zu sehen und Shakespears Sister offiziell ein Duo.
Um die Vision eines erdigeren Rocksounds für "Hormonally Yours" (der Titel bezieht sich auf die Schwangerschaft der beiden) zu erreichen, verpflichten Detroit und Fahey zahlreiche exzellente Sessionmusiker sowie den aufstrebenden Soundmann Alan Moulder, dessen glänzendes Führungszeugnis gerade um die Namen Jesus And Mary Chain und Ride erweitert wurde. Auch Stewart darf, wo er schon mal da ist, ein paar Worte mitreden und ist letztlich (unter falschem Namen) an vier Songs auf "Hormonally Yours" beteiligt, darunter die Welthits "Stay" und "Hello (Turn Your Radio On)".
Die nur im Rückblick logisch wirkende, im Jahr 1991 aber nicht unumstrittene Entscheidung der ersten Single-Veröffentlichung fällt auf die Ballade "Stay". Im dazugehörigen Theater-Video setzen Shakespears Sister ihr fortan geltendes Image in Szene: die zierliche Marcella mit dem bübischen Pagenschnitt beeindruckt mit ihrer operettenhaften Viereinhalb-Oktaven-Stimme, Rockerbraut Siobhan mit dem "Sex"-Pullover mimt das böse geschminkte Teufelsweib. Im Stile eines Bühnenstücks sieht man die klagende Marcella am Bett eines Sterbenden, bis Siobhans längst legendärer Part als Todesengel einsetzt ("You'd better hope and pray that you make it safe back to your own world"), in dem sie den Vortrag ihrer Kollegin mit Marianne-Faithfull-Bariton konterkariert. Eine Ballade, wie man sie bis dato nicht kannte und ein Video, das die düstere Musik ähnlich perfekt inszeniert wie "Lullaby" von The Cure, was MTV entsprechend honoriert.
"Hormonally Yours" entsteht zunächst als Konzeptalbum, basierend auf dem Sci-Fi-B-Movie "Cat-Women Of The Moon" aus den 50er Jahren. Er handelt von einer Mondmisssion, bei der Astronauten auf eine alte Zivilisation treffen, die vom Aussterben bedroht ist: Die Katzenfrauen. Die Story taucht in einigen Songs auf und befördert die außerirdische Atmosphäre, dient letztlich aber nur als Impulsgeber. Stewarts Freund George Harrison hört von dem Projekt und lädt Shakespears Sister in sein Homestudio ein, wo das Duo vier Wochen lang an den Songs feilt.
Das gottgleiche Gitarrensolo auf "Hello (Turn Your Radio On)" spielt Detroit daher auf einer Gitarre, die Harrison 1965 bei der Beatles-Show im New Yorker Shea Stadium benutzte. Es ist neben "Stay" der Trademark-Song der Band, der die Dynamik ihrer unterschiedlichen Stimmen perfekt in Szene setzt. Warum "Hormonally Yours" bei der Aufzählung der besten Pop-Alben der 90er Jahre meistens fehlt, ist schwer zu sagen. Wenige Alben verfügen über eine derartige Stilvielfalt, die Songs kombinieren die verschrobene Kühle der Kate Bush und die Power des Iggy Pop, veredelt in einer Produktion, die im Gegensatz zum Debüt gut gealtert ist.
Ihre Glamrock-Liebe transportiert der dunkle Opener "Goodbye Cruel World", gefolgt vom leichtfüßigen Radio-Pop in "I Don't Care", bevor "My 16th Apology" das schwierige Verhältnis der beiden Songwriterinnen scheinbar schon vorwegnimmt. Musikalisch knallt hier die Eleganz von Roxy Music auf streicherbeladene Motown-Vibes, und man hört einfach nur gebannt diesen zwei sich beharkenden Ausnahmestimmen zu. In "Are We In Love Yet" stürmen Fahey und Detroit völlig abgeklärt aufs Funk-Parkett, was auch Prince beeindruckt haben dürfte, der sie im selben Jahr für sein "Diamonds And Pearls"-Open Air in Glasgow als Support einlädt.
"Emotional Thing" kombiniert programmierte Beats mit INXS-Rocklicks, das mitreißende "Black Sky" baut auf angesagte Madchester-Rave-Grooves, wobei vor allem der weitgehend instrumental gehaltene Schlussteil mit einer freidrehenden Detroit beeindruckt. Den Anfang von "Moonchild" erkennen Trip-Hop-Fans auf Anhieb: Tricky sampelte ihn für seinen Hit "Overcome". Das gespenstische Original sollte jedoch viel mehr Menschen geläufig sein. "Catwoman" ist eine kaum verhohlene Verbeugung vor dem T.Rex-Idol Marc Bolan.
Neben dem erwähnten Awardregen erfahren Shakespears Sister 1992 außerdem die für eine weibliche Band seltene Ehre, die renommierte Pyramid-Stage des Glastonbury Festivals zu headlinen, nach den vermeintlichen Platzhirschen Morrissey und Lou Reed. Eine späte Genugtuung für Fahey, die acht Jahre zuvor bei der Aufnahme für den Charitysong "Do They Know It's Christmas?" mit ihren Bananarama-Kolleginnen Sara und Keren genau eine Frau im Studio antraf: Jody Watley. Gut, dass sich die Zeiten dahingehend geändert haben und vergiftete Komplimente wie die von Guns N' Roses-Gitarrist Slash heute nicht mehr oft zu hören sind. Nach einem Konzert schaut er bei Marcella und Siobhan in der Garderobe vorbei, um ihnen mitzuteilen: "Echt gute Rockshow, dafür dass ihr Frauen seid."
Ein Folgealbum von "Hormonally Yours", wie es sich damals sogar ihr gemeinsames Idol David Bowie wünschte, sollte es zumindest in dieser Konstellation nicht mehr geben. Fahey veröffentlicht zwei Alben unter dem bekannten Namen im Alleingang. Nach 26 Jahren Funkstille gelingt dem Duo 2019 schließlich, was sie Faheys einstigen Helden The Smiths nun voraushaben: Eine große, öffentliche Versöhnung, die sogar zwei neue Songs und eine UK-Tour nach sich zieht. Der hässliche Ivor-Novello-Vorfall damals? Das traurige Ergebnis einer gestörten internen Kommunikation, verursacht auch durch vom massiven Erfolg ausgelösten Spannungen, betonen beide.
Zum 30-jährigen Jubiläum erscheint "Hormonally Yours" in verschiedenen Versionen, 2023 spricht man dank einer Ghost-Coverversion von "Stay" erneut über das Duo. Hierzulande lassen sich Shakespears Sister live leider nicht mehr blicken, immerhin aber Faheys Sohn Sam Stewart mit seiner empfehlenswerten Band Lo Moon. Ende gut, alles gut.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
5 Kommentare
Eine absolut geniale Platte, und auf jeden Fall ein Meilenstein! Auch sehr gut die EP Ride Again
Schon allein wegen der Über-Hits „Stay“ und „Hello (Turn Your Radio On) verdienter Meilenstein für die Generation MTV
als ungeneigter Hörer erkennt man doch die einigermaßen hohe Songdichte an- wenn auch die Produktion kein ganz hohes Niveau erzielt.
"Stay"-Refrain erinnert mich an "Take On Me"! Geklaut wahrscheinlich!
Hatte ich mir seinerzeit wegen der beiden Hits gekauft. Der Rest des Albums schien mir immer ziemlich belanglos. Muss ich mir vielleicht (nach 25 Jahren Pause) mal wieder anhören...