laut.de-Kritik

Das Erbe Bob Marleys: Im Auge des Hurrikans.

Review von

Die Regel 'Family First' ist der Hauptgrund für das lange Schweigen des jamaikanischen Reggae-Hoffnungsträgers Chronixx. Als seine Partnerin Kelissa MacDonald Mutter wurde, zog sich das Paar ins Private zurück. Heute singt Kelissa auf dem üppig ausgefallenen "Exile" gelegentlich Background.

Auch Chronixx' Vater, der in den 1990ern glücklose Künstler Chronicle, der es nie zu einem Album gebracht hat, mischt wie schon auf "Chronology" wieder mit: Er verpasst dem wunderschön nostalgischen Tune "Sweet Argument" feinste Freddie McGregor-Vibes, deren Wurzel irgendwo in den 1980ern liegen.

Die guten alten Zeiten belebt Chronixx, einst Speerspitze der Roots Revival-Welle, mit einer stilsicheren Produktion und einem Maximum an Gesangsleistung, einschließlich Falsett. Sein Markenzeichen, ein leichtes Nuscheln, bewahrt er sich ("Love Is On The Mountain") ebenfalls. Acht Jahre ohne Release sind zwar eine monumental lange Zeit. Dafür gerät der Nachfolger nun monumental spitze.

Immer wieder referiert "Exile" auf den klassischen Wailers-Sound. Insbesondere "Love Is On The Mountain", "Resilient" und "Scheming" könnten direkt von Bob Marleys "Rastaman Vibration" oder "Kaya" stammen. "Love Is On The Mountain" ist eine Akustik-Nummer über das Auf und Ab des Lebens mit tollen Formulierungen wie "Love is on the mountain / sipping from the fountain".

"Scheming" grübelt als wortreiches XL-Stück über Intrigen nach, über Leute aus dem Freundeskreis, die einem in den Rücken fallen, und die man sich besser genau und wachsam anschaut. Die Scheinheiligkeit, das Verhalten der 'Hypocrites', gilt seit jeher als Kernthema der Roots Music. "Resilient" setzt auf einen Chor ähnlich der I-Threes.

Chronixx spielt auf dieser Platte Bass, Lead- und Rhythmusgitarre, Keyboards, teils auch Schlagzeug und manchmal alles selbst. Seine Aufnahmen übersandte er nach London an Forever Living Originals, das Label der anonymen Soul-Gruppe Sault und deren Producer Inflo. Wer nun nach "Dread And Terrible" (2014) und "Chronology" (2017) zum dritten Mal frustriert davon ist, dass kein oder kaum Vinyl erhältlich ist, darf Hoffnung schöpfen.

Im Januar bzw. spätestens Februar soll "Exile" als die Doppel-LP erhältlich sein. Wie das gehen soll, 17 Tracks mit 90 Minuten Spieldauer auf die Vinyl-Kapazität von 78 Minuten zu pressen, kann sich das Label bis dahin noch überlegen. Der Tracklist in Chronixx' Merch zufolge sind jedenfalls alle Songs enthalten.

Im edlen "Hurricane" schlägt Chronixx eine Spielart ein, die schon ein anderer namhafter Reggae-Act aus Jamaika nutzte: Der jüngst verstorbene Jimmy Cliff nahm etliche Male Acoustic-Folk mit Hippie-Vibe auf. In "Hurricane" geht es darum, den Stürmen des Lebens zu trotzen. "In the eye of the hurricane / I heard you whisper, call my name / I am a witness of your quickness to rescue me."

Auch andere Tracks lassen es ein bisschen logischer erscheinen, dass sich der Künstler im Umfeld von Sault wiederfindet. "Dela Splash" sollte vor viereinhalb Jahren auch ein Soul-Album heißen, das er erst aufnahm und dann in den Corona-Wirren wieder verwarf: Das schnuckelige "Never Give Up" ist ein Überbleibsel und purer Northern Soul ohne ein Gramm Reggae und kam schon Anfang 2021 als Single raus.

"Pain In Your Heart" stößt in ein ähnliches Horn. "Survivor", ein Aufruf zum Widerstand, kleidet der spirituelle Sänger in Disco-Funk: "Freedom fighter, why you're doing so / living so dangerous, young black lion" knüpft inhaltlich an die Welt von Stevie Wonder und Donny Hathaway an.

Der Lo-Fi-Tune "Genesis" erinnert musikalisch in einer zehnminütigen Andacht ebenfalls an Hathaway. Im Laufe des langen Stücks verabschieden sich ungefähr nach der Hälfte die Drums und Keyboards prägen den beatbefreiten Slow-Soul. "You're like music to my soul / my journey is like poetry / love is our destiny."

Seine Funk-Bassline mit Sing-Jay-Einlage im dumpf twerkenden "Market" nennt der Künstler selber 'Boom-Bap', obwohl das Lied damit wenig zu tun hat. Trockene und monotone One-Drops wie "I Know What You Feeling" sowie smarte Dub-angereicherte Stücke wie der Titeltrack halten sich die Waage mit melodieverwöhnten Songs à la "Don't Be Afraid" im Stile der Mighty Diamonds.

Auch "I And I" baut auf eine traumhaft charmante Melodie, die sich auch im Endlos-Loop nicht abnutzt. Ob in "I And I" oder "Family First", es gibt wahrhaft hypnotische Momente auf diesem Album. Die Texte flutschen geschmeidig ins Ohr, allesamt schlichte, non-chalante Lines der Sorte "Please Mista Gangsta, watch ya behaviour / speak the truth, stand up for the youth!". "Exile" ist ein Werk, auf das man zwar lange warten musste, das in seiner D.I.Y.-Machart und dem Ignorieren von Genre-Grenzen aber eine wegweisende Platte darstellt.

Trackliste

  1. 1. Exile
  2. 2. Market
  3. 3. Sweet Argument
  4. 4. Survivor
  5. 5. Family First
  6. 6. I Know What You Feeling
  7. 7. Saviour
  8. 8. Keep On Rising
  9. 9. Hurricane
  10. 10. Genesis
  11. 11. Don't Be Afraid
  12. 12. I And I
  13. 13. Never Give Up
  14. 14. Pain In Your Heart
  15. 15. Resilient
  16. 16. Scheming
  17. 17. Love Is On The Mountain

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Chronixx

"Prepare your minds and hearts for this revolution." Jamar Rolando McNaughton stellt sein musikalisches Genie nicht unter den Scheffel. Im Gegenteil: …

1 Kommentar