laut.de-Kritik
Ein Album, um die Schürfwunden des Lebens zu heilen.
Review von Sven KabelitzMan musste den Optimismus schon als Kind wie Nutella mit Löffeln gefressen haben, um Slowdive vor 2017 ein so starkes Comeback zuzutrauen, wie sie es mit "Slowdive" hingelegt hatten. 22 Jahre lag zurück, dass das Label Creation Records die Band gerade einmal eine Woche nach der Veröffentlichung ihres dritten Albums "Pygmalion" fallen ließ und sich die Mitglieder in alle Himmelsrichtungen verteilten.
In einer Welt, in der einem Comebacks fast schon alltäglicher vorkommen als Neugründungen, verwunderte letztlich nicht, dass Slowdive 2014 für Livekonzerte zurück kamen. Die Anmut von "Slowdive" dagegen: durchaus verwunderlich. Ohne in Nostalgie zu versinken waren Slowdive wieder sie selbst, statt sich nur plump zu kopieren. Mit dem ersten Ton von "Slomo" umarmten sie uns wie alte Freund:innen, die wir lange nicht gesehen hatten. Alles war gut. Alles war schön.
Doch die Welt drehte sich weiter, und irgendwann stellte sich die Frage, was denn nun nach dieser berauschenden Auferstehung folgen soll. Nur eines stand fest: Man wollte nicht einfach nur den Vorgänger kopieren. Neil Halstead (Gesang, Gitarre) fand zunehmend Gefallen an der Idee, ein minimalistisches und von Elektronik bestimmtes Werk nachzuschieben. Munter arbeitete er an neuen Songs, die er jedoch irgendwann auch der restlichen Band zeigen musste.
Jetzt sind Slowdive aber nicht My Bloody Valentine oder die Smashing Pumpkins. Sie funktionieren als Basisdemokratie, nicht als Diktatur. "Wenn wir als Band alle damit zufrieden sind, ist das tendenziell das stärkere Material. Wir sind immer aus leicht unterschiedlichen Richtungen gekommen, und die besten Stücke sind dort, wo wir uns alle in der Mitte treffen", sagt Halstead.
Tief in den Liedern von "Everything Is Alive" findet sich sein reizvoller Grundgedanke noch, doch erst zusammen mit den Ideen von Rachel Goswell (Gesang, Gitarre), Nick Chaplin (Bass), Christian Savill (Gitarre) und Simon Scott (Drums) formte sich daraus ein Slowdive-Longplayer. Ein Album, das sich nicht so leicht wie der Vorgänger erschließt, ihrem Sound neue Konturen schenkt, aber nach wie vor alle typischen Merkmale aus Shoegazing und Dream Pop mit sich bringt.
Manchmal ist es schon seltsam, an welchen Stellen einen ein Album knackt. Mehrere Durchgänge lang tat ich mich mit "Everything Is Alive" schwer. Letztendlich war es ausgerechnet das Instrumental "Prayer Remembered", durch das ich den Zugang fand. Ein stimmungsvoller Track, der Erinnerungen an die ruhigen Stücke aus The Cures einzig wahrer Trilogie ("Seventeen Seconds", "Faith", "Pornography", lasst euch von Robert Smith bloß nichts anderes weismachen!) und Sigur Rós in sich trägt. Ein tropfender Syntheziser-Loop leitet "Chained To A Cloud" ein, das mehr Klang als Song darstellt. Dieser verschmilzt mit Gitarrenwänden und Goswells und Halsteads körperlosen Stimmen, die mehr dem Hauch einer Erinnerung als der Gegenwart gleichen. In "Andalucia Plays" stehen Slowdive kurz vor dem Stillstand, bewegen sich nur noch samtpfotig voran. In diesen Tracks erkennt man Halsteads Plan am deutlichsten.
Den Kontrast zu diesen Stücken bieten Lieder wie der Opener "Shanty". Der für Slowdive so untypische Synthesizer eröffnet, bevor die entfernt krachenden Gitarren das Stück emporheben, durch wogende Dimensionen des Halls führen und der Bass es wieder einfängt. "Kisses" birgt die Erinnerung an die ersten schüchternen Gehversuche in Sachen Liebe, eine atmosphärische Mischung aus Jangle und Indie Pop, in der der utopische Wunsch wohnt, dies alles noch einmal erleben zu dürfen, wie fünf weitere Songs von Mixer Shawn Everett (SZA, Alvvays, Big Thief) in Szene gesetzt.
"Skin In The Game" klingt, als hätten Orchestral Manoeuvres In The Dark ein wenig zu viel an halluzinogenen Pilzen genascht. Hart verzerrte Gitarren und ein aggressiver Beat bestimmen das abschließende "The Slab", bevor die Vocals das angriffslustige Stück etwas abdämpfen.
Obwohl Slowdive "Everything Is Alive" Goswells Mutter und Scotts Vater widmen, die beide im Jahr 2020 verstarben, suhlen sie sich nicht in Trauer. Viel mehr findet sich in den psychedelischen Streifzügen des Longplayers eine trotzige Gegenreaktion. Ein aus der Vergänglichkeit entstandenes "Jetzt erst recht!" voller Hoffnung. Ein Album, um all die Schürfwunden des Lebens zu heilen.
9 Kommentare mit 6 Antworten
Starkes Album. Eines, das ich (und die Welt) gerade dringend braucht.
Neben DM's Memento Mori ein Highlight of the Year!
Irgendwie sehr ereignis- und highlight-los vor sich hinplätschernde Musik im konsequenten Midtempo. Hinterlässt kaum Eindruck bei mir. Räume aber ein, daß das in seiner kleinen Nische des verträumten Shoegaze durchaus ziemlich gut sein dürfte.
Habe ganz ähnliche Gedanken gehabt beim ersten Durchlauf, allerdings hat sich praktisch durchgehend ein sehr zufriedenes, angenehmes Gefühl bei mir ergeben, während das so im Hintergrund lief.
Werde dem noch ein, zwei Chancen geben, glaube ich
Dito. Eher Backgroundmusik. Erinnert mich an Morcheeba, auch wenn's eigentlich ein anderes Genre ist. Kannste bei dem Wetter wenig mit verkehrt machen.
Valide. Ist aber selbst für Slowdive sehr plätscherig, die hatten auch mal mehr Feuer.
Das ist ganz komisch mit dieser Platte. Eigentlich überhaupt nicht meine Baustelle, und objektiv betrachtet find ich dir gar nicht gut. Nicht besonders klever produziert, keine mega Songs, lyrics z.T. cringe af („you are my angel“ - really???) - und trotzdem macht die was mit mir. Ja, die tröstet mich auf eine ganz komische Art. Was da los???
Liebeskummer? Todesfall? Belastende Erinnerungen?
Irgendwas wird dich schon vorher emotional aktiviert haben und nun hat diese Art von Musik leichte(re)s Spiel, ebenfalls die Gefühlsebene zu erreichen, obwohl die Vernunft sagt, dass sie eigentlich eher solala sein sollte - ist bei mir genau dasselbe
Manchmal unterscheiden wir vielleicht zu sehr zwischen Emotion und Vernunft - genau so wie bei Liebe und Sexualität. Es könnte durchaus sein, dass sich in den Emotionen ab und zu ein kleiner Newton versteckt, aufgepasst!
Solche Augenblicke hat doch jeder. Solange man sie reflektiert und die Qualität der Musik nicht langfristig überhöht...all good.
Nicht ganz so herausragend wie das Album von 2017, aber alle Songs passen zusammen und ergänzen sich ganz gut. Starkes Album.
Moby reloaded