laut.de-Kritik
Wir haben sogar ein Gitarrensolo dabei!
Review von Alexander CordasWer die Promophase von "The Future Bites" etwas verfolgt hat, dürfte bereits wissen, dass sich Steven Wilson auf seinem neuen Album mit dem Konsum und dessen teils irrwitzigen Auswüchsen beschäftigt. Wir leben ja mittlerweile in Zeiten, in denen es zum Beispiel ausreicht, auf einen potthässlichen Pulli einen Schriftzug zu klatschen und diesen dann für den zehnfachen Preis des Ausgangsproduktes zu verkaufen. Wilson macht sich darüber lustig, ohne sich selbst von diesem Wahnwitz auszunehmen. Man schaue sich nur die Deluxe-Ausgabe dieser Platte an. Auf dem Cover prangt in übergroßer Schrift lediglich "Limited Edition Deluxe Box Set". Köstlich!
Der Künstler Wilson erfindet sich auch auf seinem sechsten Solo-Album neu. Dass ihm das Widerkäuen von Erfolgsformeln zuwider ist, hat er bereits in der Vergangenheit oft genug erwähnt. Auch 2021 setzt er auf Erwartungshaltungen seiner Anhängerschaft einen großen Haufen und provoziert mit stilistischen Zickzackbewegungen abermals beleidigte Kommentare seiner Devotees.
Die gab es schon bei der ersten Singleauskopplung "Personal Shopper" zur Genüge. Das Blaffen der Leberwurstfraktion war so vorhersehbar wie ermüdend. An dieser Stelle sei mal Machine Gun Kelly zitiert. Jener gab im Gespräch mit Late Talker James Corden Interessantes zum Besten. Auf die Frage, warum er statt eines Rap-Albums eine Pop-Punk-Platte gemacht hat, meinte er: "Heutzutage will jeder das gleiche immer und immer wieder machen und ich wollte aus dieser Schablone ausbrechen." Mit diesem Statement offenbart er sich als Künstlerbruder im Geiste von Steven Wilson. Lasst die Leute doch einfach musizieren. Wenns nicht gefällt? So what? Einfach weiterspazieren, es gibt genug Alternativen.
Dabei klingt "The Future Bites" gar nicht mal sooo viel anders, als das, was Wilson bisher so produziert hat. Jeder einzelne Song auf "The Future Bites" könnte so oder in ähnlicher Form auch auf einem seiner anderen Solo-Alben vertreten sein. Lediglich der gestiegene Elektro-Anteil sticht ins Ohr. Der prägt - unter anderem - auch "King Ghost". Der Track beginnt relativ unspektakulär, windet sich jedoch im Refrain in unglaubliche emotionale Höhen empor. Das dazugehörige Video verstärkt diesen Gänsehautmoment noch um ein Vielfaches. Hier greift wieder einmal das visuelle Rädchen in den Hörgenuss.
Es ist aber auch nicht alles Gold, was hier glänzt. Einem eindringlichen Moment wie auf "King Ghost" steht dann wieder so ein Liedchen wie "12 Things I Forgot" gegenüber. Nicht, dass dieser Rockpop-Moment schlecht wäre, aber das klingt so übertrieben klebrig-süß, dass man nicht wirklich etwas vermisst, wenn sich der letzte Takt verabschiedet hat. Dann doch lieber eine Funksoulbrother-Nummer wie "Eminent Sleaze", die im Mittelteil ein hübsches 70er Disco meets Motown-Feeling verbreitet.
Das zentrale Stück, "Personal Shopper", erschließt sich auch erst nach mehreren Hördurchgängen. Der mechanisch hämmernde Beat geht erst ins Mark, wenn Nick Beggs seinen drängenden Basslauf hinzufügt. So richtig absurd gerät es dann im Breakdown im Mittelteil, wenn Sir Elton eine ganze Palette an Produkten aufzählt und im Echo diverse Ich-Zustände um die Aufmerksamkeit des Hörers buhlen. Spooky, funky, soulig. Alles dabei.
"The Future Bites" hält aber noch ein weiteres Highlight parat, und zwar das Social Media-Bashing "Follower". Der Beat drischt den Track gnadenlos nach vorne und untermalt Zeilen wie "It's OK to hammer and kick now, I'll be a virtual brick through your window, Oh, follow me follow me" ganz vorzüglich. Und oha! Was haben wir denn da? Ein Gitarrensolo! Vielleicht versöhnt gerade diese Nummer die grumpy Prog-Fraktion mit dem Album? Zumindest dürfte "Follower" dem 'klassischen' Steven Wilson am nächsten kommen.
Das sechsminütige Outro "Count Of Unease" klingt wieder wie eine klassische Wilson-Ballade. Sie beschließt mit schönen Texturen und reduziertem Klangkostüm ein Album, das anders klingt als jede andere Platte des Ex-Porcupine Tree-Kopfes. Gleichzeitig gelingt dem Künstler der Spagat, eben immer noch nach sich selbst zu klingen. Die Entwicklung in Hemel Hempstead schreitet voran, und das ist auch ganz gut so.
24 Kommentare mit 34 Antworten
"Lasst die Leute doch einfach musizieren. Wenns nicht gefällt? So what? Einfach weiterspazieren, es gibt genug Alternativen."
Und das vom Musikkritiker.
Jepp. Das war zum Fremdschämen.
Man könnte meinen, Musikkritiken wären überflüssig - weil: subjektiv.
Kommt halt darauf ab, von wem sie kommen.
Seit Wigger bei SPON weg ist, sind deren wöchentliche (gibt's die noch?) "Alben der Woche" irrelevant.
Ich vermiss den Wigger auch...
Hab in diesem Jahr noch keine "Alben der Woche" registriert.
kommt ja auch wenig relevantes in den letzten 2 Jahren raus
"Jeder einzelne Song auf "The Future Bites" könnte so oder in ähnlicher Form auch auf einem seiner anderen Solo-Alben vertreten sein." Einspruch, Euer Ehren. Da ist selbst der noch am ehesten vergleichbare Vorgänger "To the bone" auf einem vollkommen anderen Level - gerade was das Songwriting angeht.
Jepp. "King Ghost" ist vielleicht noch am passendsten für andere Scheiben. Aber sonst höre ich gar nix, was auf seinen anderen Scheiben untergekommen wäre. Selbst als B-Seiten für Singles wäre manches eher meh.
Ich find's gut. Kein HCE, ist klar. Aber "Personal Shopper" ist perfekte Popmusik. Musste danach den Erstling der Scissor Sisters hören. War passend.
Ganz meine Meinung. Personal Shopper ist ein Ohrwurm vor dem Herrn.
Hatte mir die Tour Edition der Platte schon im Oktober vorbestellt, jetzt in Ruhe angehört und leider wieder verkauft.
Der Grund: Es klickt einfach nicht. Prinzipiell habe ich überhaupt nichts gegen elektronische Musik. Im Gegenteil, manche Band wie die mittleren Depeche Mode oder andere auch dance-lastigere Sachen mag ich sehr.
Was den Sound des Albums angeht, kann ich auch nichts sagen, coole Soundscapes und so, aber es fehlen einfach Melodien, die es mehr als nur interessant machen. Und gerade die tollen Melodien haben Steven Wilson oder auch Porcupine Tree meiner Meinung nach ausgemacht, egal ob Prog oder eher poppig, wie bei "To The Bone". So hart beispielsweise "Arriving Somewhere..." in Teilen sein mag, die großartigen Harmonien halten den Song zusammen und machen ihn aus meiner Sicht erst so großartig wie er ist. Aber auf TFB scheint er so sehr darauf aus gewesen zu sein, anders zu klingen, dass er oder der Produzent weniger Wert auf genau diese Melodien gelegt hat.
Aber das alles stehe ich ihm zu, ich hoffe allerdings, dass er nach dem Experiment wieder etwas zurück zu seinen Wurzeln findet, egal mit welchem Sound auch immer. Wenn ich mir was wünschen könnte, dann dürfte er gerne das fortsetzen, was Depeche Mode nach Ultra verloren haben. Es bleibt spannend...
Ich weiss auch irgendwie nicht was ich davon zu halten habe. Experiemente sind ja ganz gut aber das klingt auch irgendwie nach zu sehr Disco.
12 things i forget irgendwie nach Blackfield.
Nach 3x hören schau ich immer noch irritiert auf den Plattenteller.
To the Bone konnte relativ schnell begeistertn aber hierfür brauch ich noch eine WEile.
Trotz des moderneren Anstrichs noch (oder wieder?) seehhr Pink-Floyd-like. Und so etwas wie "Personal Shopper" gab's doch auch schon mal: "Choose Life" vom Trainspotting-Soundtrack. Zugegeben, "Personal Shopper" ist besser.