laut.de-Kritik
Zwischen Altersmilde und zeitlosem Zwist.
Review von Ingo ScheelEin wenig grau und angemüdet blicken die Reids von den neuen Promofotos. Kaum zu glauben, dass die beiden Brüder und ihre Band The Jesus And Mary Chain Mitte der 80er im UK Konzerte spielten, die vor Extremen nur so dampften: Saalschlachten, zerstörtes Equipment, Pintgläser-Hagel im Feedback-Orkan, halluzinierende Stand-Schlagzeuger (Bobby Gillespie, heute Primal Scream) und Setlists unter zehn Minuten. Auf der ersten Tour durch hiesige Breiten warnten Zettel an der Hallentür die Zuschauer: "Die Band spielt nicht länger als 35 Minuten." Immerhin.
Ein Mix aus den Shangri-Las und den Einstürzenden Neubauten hatte den chronisch zerstrittenen Reids vorgeschwebt. Insbesondere die ersten Singles "Upside Down", "Never Understand" und das überlebensgroße "Just Like Honey" lösten dieses Vorhaben röhrend-pfeifend-zerrend.
Später reduzierte die Band den Krach, landete beinahe konventionelle Hits ("Happy When It Rains") und geriet gegen Ende von Phase I mit "Stoned & Dethroned" (1994) und "Munki" (1998) in seichtere Gewässer, bevor sie schließlich vom Radar verschwanden. Anno 2007 folgte die Reunion mit der legendären Show auf dem Coachella-Festival, selbst Scarlett Johansson übte den Schulterschluss.
Nun also, immerhin eine ganze Dekade nach der Wiedervereinigung, folgt tatsächlich ein neues Album. Es klingt, als habe "Munki" erst zwei, drei Jahre auf dem Buckel. Fast schon unwirklich, wie beiläufig William und Jim Reid den Faden wieder aufnehmen. Produziert hat mit Youth (bürgerlich Martin Glover, Killing Joke-Bassist) einer, der weiß, wie man zerrüttete Künstlerseelen anfasst und sanft wieder auf den Weg bringt. Youth zog die Reids quasi aus dem Verkehr und isolierte sie in seinem Studio in der spanischen Einöde.
Die Vorab-Single "Amputation" gab bereits den Takt vor: old-fashioned Drums aus der Dose, überschaubare Riff-Varianten zwischen süß und angesäuert, ein wenig Wimmern, textlich irgendetwas mit "Rock'n'Roll" und "Amputation", whatever that means.
Nicht der ganz große Wurf, aber eine durchaus solide Rückkehr zu alter Form. Nicht zu jener adoleszent-unterzuckerten Lebenslaune, als die Kaltmamsell mit großzügigem Händchen kakophonischen Krach servierte und den melodiösen Honig mit Rückkopplung zudröhnte, aber zu ziemlich vielem, was danach folgte: verhallt-näselnde Midtempo-Schieber, countryeskes Downsizen, klassisches Songwriting und irgendwo da hinten drin auch noch einmal das gute, alte Feedback.
"Always Sad" hat eine so originäre TJAMC-Melodieführung, dass man das Grinsen kaum wieder aus dem Gesicht bekommt. "Song For A Secret" jinglejanglet mit einer fast schon dreisten Selbstreferenz an das gigantische "Between Us" vom Album "Stoned & Dethroned". "The Two Of Us" klingt, als spielten Stereolab alte Go-Betweens-B-Seiten nach, und "Los Feliz (Blues And Greens)" schunkelt urentspannt zwischen Wüstensand und Seitengassen.
Sie haben sich weniger gezofft als früher, so Jim Reid in einem Interview. Vielleicht ächtze der Sound unter etwas mehr Psychoballast auch wieder mehr. So jedoch gerät Phase II von The Jesus And Mary Chain zwar nicht zum Furor revisited der Anfangstage, dafür jedoch zu einem soliden Middle-Age-Werk, das zudem mindestens drei Evergreens für das ewige TJAMC-Mixtape bereithält:
"All Things Pass" baut superb Suspense auf, um nach dezentem Bass/Drums-Drama mit flatternden Hosenbeinen Richtung "Automatic" abzuheben. Der Zungenbrecher "Presidici (Et Chapaquiditich)" beweist, wie unterhaltsam dieser beleidigteleberwurstige Tonfall in der Stimme immer noch mit den großen Riffs harmoniert, und "Get On Home" haut einem nach etwa einer Minute einen zutiefst euphorisierenden Chord-Change um die Ohren. Vorfreude auf die kommende Tour? Immens! Bitte nicht vorher wieder zerstreiten.
8 Kommentare mit 3 Antworten
Bin gespannt. Kommt ja nicht überall so gut weg, aber dir beiden Vorabtracks fand ich schon mal ganz gut, wenn auch nicht großartig.
sehr gutes album, das problemlos ans gute songwriting und die atmosphäre von "stoned & dethroned" anknüft.
Ich find's auch prima. Noisig, aber dennoch sehr eingängig.
Mix aus "Automatic" und "Stoned and Dethroned" und leider keine Weiterentwicklung mehr. Hoffe es kommt noch ein Dub-Remix-Album von "Damage and Joy". Martin Glover ist doch der perfekter Producer für so etwas.
Was neben "Automatic"- und " S&D"-B-Seiten-Charakter auch mein Kritikpunkt wäre. Höre jetzt The Bug vs. Earth aber schon die ganze Zeit. Stagnation auf beiden Seiten, die aber auf Albumlänge prima funktioniert irgendwie. So kann es auch gehen.
ich würde jetzt dafür keine poster aufhängen aber das ding ist durchaus stabil.
was mir beim hören aufgefallen ist, ist, wie sehr sich deerhunter, gewollt oder nicht, am sound der jesus and mary chaine orientieren.
zücke die 7,5.
Tolles Album, gefällt mir sehr.
Gleich gekauft.
Das Album wird sogar auf Kassette verkauft !? Hab ich was verpasst?