6. März 2025
"In uns allen steckt eine tiefe Einsamkeit"
Interview geführt von Karina SadkovWesley Schultz reflektiert über 20 Jahre The Lumineers, die Balance zwischen künstlerischer Authentizität und äußeren Erwartungen – und warum Musik gerade in einer reizüberfluteten Welt ein unverzichtbares Gegengewicht sein kann.
Mit "Ho Hey" oder "Ophelia" landeten The Lumineers große Hits – doch ihr Weg endete damit längst nicht. Seit mittlerweile 20 Jahren sind Wesley Schultz und Jeremiah Fraites in der Musikbranche unterwegs und haben in dieser Zeit viele Erkenntnisse gesammelt. Mitte Februar erschien ihr viertes Studioalbum "Automatic" – eine Platte, die den Sound der Band weiterentwickelt, ohne ihre Wurzeln zu vergessen.
Euer kommendes Album "Automatic" erscheint in ein paar Tagen, und meine erste Frage wäre: Wenn du es in drei Worten beschreiben müsstet, welche wären das?
Wesley Schultz: Hm, drei Worte ... Ich würde sagen Rückkehr zur Unschuld.
Das klingt schön. Könntest du erklären, warum?
Das Album markiert 20 Jahre, in denen Jere und ich gemeinsam Musik machen. Es ist fast so, als würde man so lange kämpfen, um einfach nur nach sich selbst zu klingen, oder man steht sich dabei selbst im Weg. Ich denke, dieses Album ist auf eine sehr natürliche Weise entstanden, nicht so durchgeplant oder geprobt. Der Grund, warum ich Rückkehr zur Unschuld gesagt habe, ist, dass wir einen Großteil des Albums in Live-Takes aufgenommen haben, ohne viele Demos zu machen. Wir haben vieles einfach direkt aufgenommen, und man kann dieses verspielte, unschuldige Gefühl in den Aufnahmen hören.
Das ist wirklich schön. Ich finde das Album auch großartig, weil es sehr beruhigend klingt – was sich auch in den beiden fast rein instrumentalen Songs widerspiegelt. Das macht also Sinn für mich. Wie hat sich euer kreativer Ansatz in den letzten 20 Jahren entwickelt?
Ich glaube, es fing damit an, dass ich diese Beatles-Dokumentation gesehen habe. Ich hatte schon von ihrer Zeit in Hamburg gehört – diese Phase des Experimentierens, in der man noch anonym ist, die Musik anderer Leute lernt und verschiedene Stile ausprobiert. Es ist fast wie in der Teenagerzeit, wenn man verschiedene Klamottenstile ausprobiert und sich selbst noch nicht ganz gefunden hat. Ich stelle mir vor, dass es schwer sein muss, wenn man jung berühmt wird – wie ein Justin Bieber, der all diese Phasen vor den Augen der Öffentlichkeit durchlebt hat.
Ein anderes Beispiel wäre meine Schwester, die mit ihrem Mann zusammengekommen ist, als sie beide 16 waren. Sie mussten schwierige Phasen gemeinsam durchstehen, was wirklich hart ist. Ich habe meine Frau erst in meinen späten 20ern kennengelernt und ich denke, wir wussten beide schon mehr über uns selbst.
Der Vorteil, im Verborgenen zu experimentieren, ist, dass man nicht auf ein bestimmtes Ergebnis hinarbeitet, sondern einfach nur herausfinden will, was zu einem passt. Jere und ich konnten das etwa sieben Jahre lang machen, bevor irgendetwas Größeres passiert ist – und davor hatten wir beide auch schon unabhängig voneinander experimentiert. Man könnte also sagen, wir hatten sieben bis zehn Jahre, um unseren Stil zu finden.
Beim Songwriting gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann Songs schreiben, um andere zu beeindrucken, oder man kann es für sich selbst tun. Und wenn man es für sich selbst tut, dann kann es opulent oder schlicht sein, poliert oder rau. Aber in dieser Art des Schreibens liegt eine gewisse Schönheit – eine Art gesunder Egoismus. Die besten Songs geben ihren Figuren Namen, anstatt sie nur als "Protagonist*in" oder "Mann/Frau" zu bezeichnen. Das macht es persönlicher, und trotzdem strahlt es nach außen.
Ich glaube, das ist die wahre Kraft von Musik – aber es ist schwer, dorthin zu gelangen. Es hat bei mir lange gedauert, und man ist immer auf der Suche. Man sollte sich ein wenig nervös und unsicher fühlen, neugierig und unschuldig bleiben – genau das ist der Grund, warum man Musik macht. Ein Künstler hat das mal so beschrieben: Man versucht, das Unaussprechliche auszudrücken oder das Unerreichbare zu berühren. Es gibt etwas an Musik und Poesie, das uns hilft, genau das zu vermitteln. Das ist es, was ich an Musik so liebe – sie ist nicht wörtlich, nicht rational, sondern etwas viel Mystischeres.
Würdest du sagen, dass ihr anfangs mehr für euch selbst Musik gemacht habt und es jetzt eine Mischung aus für euch und für das Publikum ist?
Ich würde eher sagen, dass es für mich anfangs mehr um das Publikum ging. Ich wollte andere beeindrucken. Erst als ich das hinter mir lassen konnte, habe ich mich gefragt: Wie kann ich etwas erschaffen, das mich wirklich bewegt und mit dem ich mich verbunden fühle? Man kann sich selbst als eine Art Antenne für Ideen betrachten. Das hilft enorm, um zur Essenz der Musik zu gelangen – es geht nicht darum, andere Musiker*innen zu beeindrucken. Das Besondere an Musik ist doch, dass sie all unsere Schutzmechanismen durchbricht und uns ganz unmittelbar fühlen lässt.
Es ist ein bisschen so, wie wenn man einen bestimmten Geruch wahrnimmt, der einen sofort in eine vergangene Erinnerung zurückversetzt. Musik kann genau das – sie bringt dich emotional sofort an einen bestimmten Ort. Ich habe das schon oft gesagt, aber bei diesem Album wird mir das besonders bewusst: In einer Welt, in der wir alles tun, um uns abzulenken und Emotionen zu unterdrücken, ist Musik das Gegenteil. Musik ist das Gegenmittel dazu. Man könnte denken, dass Musik in unserer Zeit an Bedeutung verliert, aber eigentlich brauchen wir sie mehr denn je, weil wir es leid sind, nichts mehr zu fühlen.
Ja, und es hilft auch, sich mit anderen verbunden zu fühlen, wenn man weiß, dass es denen genauso geht.
Absolut. Und es muss nicht mal eine positive Emotion sein. Ich habe mich immer besonders zu extrem emotionalen, traurigen Songs hingezogen gefühlt. Irgendetwas daran lässt mich immer wieder zurückkommen – ganz anders als bei typischer "Pump-Up"-Musik fürs Fitnessstudio oder so.
Das sind die Momente, in denen man einfach wissen will, dass man nicht allein ist mit seinen Gefühlen.
Ich glaube, in uns allen steckt eine tiefe Einsamkeit, die wir meistens ignorieren. Aber sie ist immer da, unter der Oberfläche. Manchmal trifft ein bestimmter Song mit der richtigen Melodie genau diesen Nerv – und plötzlich fühlt man sich verstanden, gerade weil man sich allein fühlt.
"Musik ist diese natürliche Ressource, die nicht verschwindet, und wir brauchen sie heute mehr denn je."
Gibt es Songtexte, die du geschrieben hast, die mit der Zeit für dich eine neue Bedeutung bekommen haben?
Hm, lass mich überlegen ... Meinst du ältere Songs?
Alle Songs. Es kann auch ein neuer Song sein – nur weil er noch nicht fünf Jahre alt ist, heißt das ja nicht, dass sich seine Bedeutung für dich nicht schon verändert haben könnte.
In Bezug auf das, was wir gerade besprochen haben, gibt es den Song, den wir zuerst veröffentlicht haben: "Same Old Song". Ich habe einen Song vor einer Weile gehört, es ist eine B-Seite von Warren Zevon namens "Tule’s Blues", und darin heißt es: "It's a sad song and we always seem to be singing it to each other." Ich habe mich immer mit dieser Zeile verbunden gefühlt, und als ich versucht habe, eine Hook für "Same Old Song" zu schreiben, wurde das letztendlich daraus. Also fing ich an zu singen: "Same old song, we sing the same old, same sad song."
Am Anfang bedeutete dieser Satz für mich, dass wir traurig sind und uns durch diese Traurigkeit verbinden. Dass das einfach ein menschlicher Geisteszustand ist. Aber dann, selbst über diesen kurzen Zeitraum hinweg – das war letzten Mai oder Juni, als wir das geschrieben und aufgenommen haben – begann sich meine Sichtweise zu verändern. Ich fing an, das, was ich vorhin versucht habe zu erklären, noch deutlicher zu erkennen: dass Musik ein Gegenmittel zu dieser Realität ist, in der wir uns befinden. Wenn du durch ein Café, einen Flughafen oder eine U-Bahn-Station gehst, siehst du überall Menschen, die auf ihre Handys starren, um sich abzulenken, um Dopamin zu bekommen. Diese Dinge sind so gut konzipiert, sie funktionieren mit Algorithmen, die vorhersagen, was wir als Nächstes brauchen werden und wenn du das mit Medikamenten kombinierst, die so viele Menschen nehmen, dann ergibt sich daraus eine Art Gesamtsituation, in der Musik das Einzige ist, das konstant geblieben ist.
Ich habe vor Jahren eine Dokumentation gesehen, die mich umgehauen hat. Sie heißt "Alive Inside" und handelt von Demenz-Patient*innen. Viele von ihnen sind nicht mehr in der Lage zu sprechen und leben isoliert in Pflegeheimen. Sie bekommen Medikamente, die sie ruhigstellen, und kommunizieren kaum oder gar nicht mehr. Doch ein Wissenschaftler erforschte, welche Auswirkungen Musik auf das Gehirn hat, weil sich das Gehirn an Musik erinnert und sie bewahrt, unabhängig von der Krankheit. Er spielte diesen Patient*innen Lieder vor, von denen ihre Familien sagten, dass sie sie früher gehört hatten – oder er hat geraten, falls keine Familie da war. Sobald er Musik aus ihrer Jugend spielte, begannen sie zu singen, zu tanzen, mit den Pfleger*innen zu interagieren. Es war unglaublich bewegend. Genau das wurde dann auch das Gefühl hinter der Hook "We sing the same old, same sad song": dass Musik das Einzige ist, das uns aufrichtet und uns Emotionen entlockt – in einer Welt, in der wir, ob absichtlich oder nicht, oft versuchen, nichts zu fühlen. Musik ist diese natürliche Ressource, die nicht verschwindet, und wir brauchen sie heute mehr denn je.
Das ist wirklich schön, wie sich das für dich verändert hat. Das ist beeindruckend!
Ja, weil es zuerst eher düster und traurig war und sich dann zu etwas Positivem gewandelt hat.
Aber ich finde, es ist gerade schön, dass es beides gleichzeitig ist – dunkel und trotzdem irgendwie süß.
Ja, das erinnert mich an ein Bild, das ich gesehen habe. Mir hat es so gut gefallen, dass ich einen Screenshot gemacht habe. Es ist genau das, worüber wir sprechen. [Das Bild zeigt ein Gespräch zwischen einem Mädchen und Charlie Brown.] Das Mädchen sagt: "Dieses Lied deprimiert mich immer." Und Charlie Brown antwortet: "Spiel es nochmal, ja?" Das ist im Grunde das Wesen dessen, worüber wir hier sprechen. Es ist diese seltsame, aber irgendwie lustige Natur der ganzen Sache. Manchmal hat man den schlimmsten Tag überhaupt, und dann sagt jemand einfach: "Das klingt wirklich hart und furchtbar." Das kann dich trösten, weil du dich gesehen fühlst und dein Schmerz anerkannt wird – auch wenn es auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint.
Aber irgendwie funktioniert das.
Ja, ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der man oft zu hören bekam: "Ach, dir geht's doch gut." Aber manchmal will man einfach nur hören: "Das ist echt scheiße."
Das kenne ich. Mal ein anderes Thema: Wie weißt du, wann ein Song wirklich fertig ist? Hast du jemals einen Song veröffentlicht und später gedacht, dass du etwas daran hättest ändern sollen?
Ja, ich wünschte, ich hätte den Refrain von "Life In The City" geändert. Ich liebe die Melodie, aber ich habe das Gefühl, dass der Text im Refrain nicht wirklich aussagekräftig ist. Ich spiele den Song auch nicht live, weil ich einfach enttäuscht bin. Aber damals fand ich ihn gut.
Aber es ist ja auch eine Erinnerung – du wusstest ja mal, dass du ihn mochtest.
Ja, damals dachte ich, dass er gut ist. Aber irgendwann hat sich etwas verändert, und jetzt kommt er mir vor wie das, was wir "Genericana" nennen – wenn du nicht einmal genau weißt, worüber die Sänger*in eigentlich singt. Es fühlt sich einfach zu allgemein an. Ich wünschte, ich hätte etwas Mutigeres, Spezifischeres geschrieben, etwas, das ein besseres Bild zeichnet. Jetzt kommt es mir einfach zu austauschbar vor.
Aber vielleicht kannst du ihn irgendwann neu aufnehmen?
Ja, wenn das der Fall wäre, würde ich ihn wahrscheinlich auch öfter singen.
Noch eine Frage zu "Automatic": Wenn das Album in einem alternativen Universum in einem völlig anderen Genre existieren würde – wie würde es klingen?
Ich glaube, gute Songs kann man in viele verschiedene Formen gießen. Wenn wir beim Songwriting einen guten Job gemacht haben, könnte es zum Beispiel ein Synthesizer-Album mit Gesang sein. Oder ein Country-Album. Das spielt keine Rolle. Die Grundstruktur der Songs muss stark sein und ich habe das Gefühl, dass "Automatic" das beste Album ist, das wir je gemacht haben.
Es gibt da auch so ein Element von genreübergreifender Wandelbarkeit. Zum Beispiel war "You're All I Got" ursprünglich als Ballade gedacht, wurde dann aber zu einem gitarrengetriebenen Song. Und "Same Old Song" könnte man auch sehr ruhig und traurig singen. Ich finde, wenn ein Song gut ist, kann man ihn formen wie Lehm , weil das Fundament stabil ist. Kennst du das Lied "Hurt" von Nine Inch Nails? Das wurde später von Johnny Cash gecovert.
Nein.
Das ist einer der bekanntesten Nine-Inch-Nails-Songs und die Originalversion ist sehr industriell, düster und avantgardistisch. Dann hat Johnny Cash es gecovert, nur mit seiner Stimme und einer Akustikgitarre, als er schon älter war. Beide Versionen sind unglaublich bewegend, aber auf ganz unterschiedliche Weise. Oder nimm "All Along the Watchtower" – Bob Dylan hat es geschrieben, und später hat Jimi Hendrix es gecovert. Das sind solche Beispiele: Wenn ein Song wirklich gut ist, kann man ihn verändern und neu interpretieren.
"Du bist einfach nur noch das Produkt von jemand anderem, jemand, der andere reich macht."
Ich finde auch, dass die Texte auf dem Album wirklich stark sind. Und als du gesagt hast, dass man es formen kann wie Lehm, musste ich sofort an "Plasticine" denken.
Ja, dieses Lied basiert sehr auf der Idee: Stell dir vor, das Einzige, was du willst, ist berühmt zu sein oder groß rauszukommen. Das ist gar nicht so weit entfernt von vielen Menschen, die versuchen, berühmt zu werden. Es gibt das Wort "Industry Plant", das oft übertrieben verwendet wird. Aber ein Teil davon ist wahr – es gibt Menschen, die benutzt und ausgebeutet werden, um jemand anderem zu nützen. Ihr eigener Gewinn besteht nur darin, dass ihr Name bekannt wird oder sie "berühmt" werden. Aber das ist irgendwie ein Pakt mit dem Teufel. Ich liebe dieses Lied und wie anders es im Vergleich zu den anderen Songs auf dem Album ist. Aus irgendeinem Grund erinnert es mich an die Achtzigerjahre.
Das ist mein Lieblingssong auf dem Album.
Das ist cool. Als wir ihn gemacht haben, dachte ich, dass ihn vielleicht nicht alle verstehen würden. Aber ich liebe es jetzt wirklich, ihn live zu spielen, und ich bin froh, wie er geworden ist. Es könnte so klingen, als wäre es eine Kritik an bestimmten Künstler*innen, die fast wie Politiker*innen wirken. Aber ich glaube, es geht auch darum, dass ich verstehen kann, wie verlockend das sein kann.
Ich verstehe, dass die Versuchung groß ist, den falschen Dingen zuzustimmen, keine eigene Meinung zu haben und einfach andere für sich entscheiden zu lassen – dass das höchste Ziel einfach nur ist, so groß wie möglich zu werden, in den größten Hallen zu spielen. Wenn du so bist, dann kann ein Label, ein Management oder sonst jemand dich benutzen wie Lehm – und irgendwann bist du nicht mehr du selbst. Du bist einfach nur noch das Produkt von jemand anderem, jemand, der andere reich macht. Wenn du das nicht mehr kannst, wirst du fallen gelassen. Ich habe Mitleid mit den jungen Künstler*innen, die nachkommen, weil sie heutzutage auch noch Broadcaster sein müssen. Sie müssen eine Social-Media-Präsenz haben, dürfen keine Distanz mehr zwischen sich und ihrem Publikum haben. Und das ist eine riesige Last – wer ist denn überhaupt so oft am Tag wirklich interessant? Das kann sich anfühlen, als würde man einfach nur eine Rolle spielen. Das alles wird von ihnen erwartet. Die große Frage ist: Wie bleibt man bei all dem noch man selbst? Das ist eine Menge, was diese jungen Menschen leisten müssen.
Ja, das sehe ich auch so. Mir gefällt es, wenn Musiker*innen authentisch sind und über viele Dinge sprechen, weil man sie dann auch als Menschen besser kennenlernt. Für mich ist das zum Beispiel bei Yungblud so. Aber man sieht auch bei anderen Künstler*innen, dass es eine Belastung sein kann, weil sie manchmal zu bestimmten Themen nichts sagen – und dann kommen die Fans und machen Druck mit Aussagen wie: "Du sagst sonst immer etwas, warum jetzt nicht?"
Ja, genau das ist ein wichtiger Punkt. Wenn es wirklich zu jemandem passt, dann kommt es auch authentisch rüber. Aber wenn man es nur aus Verpflichtung macht, funktioniert es nicht. Bei Politiker*innen ist das genauso: Wenn jemand versucht, lustig zu sein, aber gar nicht so ist, dann wirkt das einfach seltsam. Man muss sich selbst treu bleiben – und das macht Menschen oft noch sympathischer. Selbst wenn sie grummelig sind. Ich finde, Liam und Noel Gallagher sind so faszinierend, weil sie einfach komplett sie selbst sind. Sie sind echt witzig, ein bisschen grantig, sehr talentiert und fast schon so arrogant wie Rapper*innen. Aber genau das macht ihren Charme aus, und sie bringen diese Energie in den Rock.
Du führst sicher viele Interviews mit Musiker*innen – wenn du hundert Leute aus dem Bereich amerikanischer Folk-Rock oder Singer-Songwriter interviewst, dann kann es doch nicht sein, dass sie alle unglaublich bescheiden sind. Das wäre einfach nicht authentisch. Es muss doch auch jemanden geben, der sagt: "Ich bin der/die Beste!" Es gibt so viel Stress und Inszenierung in der Musikindustrie und wenn man dann auf jemanden trifft, der einfach nur er/sie selbst sein darf, ist das wirklich erfrischend.
Ein großartiges Beispiel ist Billie Eilish. Ich kenne sie nicht persönlich, aber ich nehme ihr und ihrem Bruder Finneas alles ab. Sie sind brillant, total sie selbst und haben es trotzdem geschafft, ihre Integrität zu bewahren – obwohl sie zu den berühmtesten Musiker*innen der Welt gehören. Das gilt auch für Adele. Es gibt nur wenige, bei denen man sich fragt: "Wie hast du das gemacht?" Das ist beeindruckend.
Das erinnert mich auch an Chappell Roan, weil manche Leute sagen, sie sei unhöflich – aber eigentlich liegt es nur daran, dass sich die Musikindustrie verändert hat. Alle mischen sich in ihr Leben ein, dabei sie möchte einfach ihre Privatsphäre.
Ja, und in ihrer Musik sagt sie ja auch sowas wie "Revenge is my favorite ..." – ich weiß nicht mehr genau, wie der Satz weitergeht. Aber sie beschreibt sich selbst als nachtragend. Ich bin über meine Kinder auf sie gestoßen – das klingt jetzt so, als wäre ich alt, aber es stimmt einfach. Ich liebe ihre Texte und finde sie wirklich originell. Die Melodien sind natürlich großartig, aber ich hätte nicht erwartet, dass sie gleich so gut ist.
Ich habe ein Video von ihr gesehen, wo sie sich mit Paparazzi oder so gestritten hat, und da dachte ich mir: Das ist jemand, der ein paar Dinge für sich herausgefunden hat und klare Grenzen setzen kann. Bei vielen anderen ist es eher so: "Macht einfach, was ihr wollt, haltet mich einfach berühmt." Und das ist einfach viel. Deshalb ist es schön zu sehen, wenn jemand seine Grenzen kennt und seine Integrität bewahrt – denn meistens ist es anders, wenn man einmal in den höchsten Kreisen angekommen ist.
Das hast du wirklich gut ausgedrückt. Okay, die letzte Frage klingt vielleicht etwas seltsam, aber ich finde sie ziemlich witzig: Wenn eure Musik einen bestimmten Duft hätte, wonach würde sie riechen?
Das kommt darauf an, wen du fragst [lacht]. Das ist seltsam, aber ich benutze dieses Aesop-Deo, und ich wünschte, es würde danach riechen. Aber ich glaube, die meisten Leute würden sagen, dass es eher nach etwas Hippie-mäßigem riecht – wie abgenutztes Leder oder so. Okay, weißt du was? Ich glaube, diesen Geruch kann man gar nicht richtig beschreiben. Mein Vater hatte eine Jagdhütte, und dort gab es Decken, die das ganze Jahr über dortblieben. Ich erinnere mich, dass ich als Kind diesen Geruch geliebt habe. Ich weiß nicht, wie man das nennt, aber es war der Duft einer alten, eingelebten Decke.
Also riecht es irgendwie nostalgisch?
Ja, aber wenn du es so sagst, klingt es ein wenig billig. Ich glaube, was ich meine, ist dieses Gefühl von etwas Aufgeladenem, etwas Transzendentem, das einen zurückversetzt. Jahre später, als ich meine Frau gerade kennengelernt hatte, waren wir mal mit Freunden unterwegs, haben zu viel getrunken und mussten bei jemandem übernachten. Und dort roch es genauso – ich wurde sofort in meine Kindheit zurückversetzt. Es war wild, wie viel Bedeutung dieser einfache Geruch hatte. Eine muffige Decke – das ist unser Duft [lacht].
Ich finde, die Analogie ist wirklich schön, und sie macht total Sinn – auch in Bezug auf eure Musik und alles, worüber wir vorher gesprochen haben.
Ja, das ist das Gute daran. Viele Dinge, die Menschen vermeintlich nicht mögen, mögen sie eigentlich doch – diese ungeschliffenen, rohen Live-Aufnahmen, in denen es "Fehler" gibt, die nicht herausgeschnitten wurden. Da steckt Menschlichkeit drin. Das ist das, was viele Lieblingskünstler*innen wie die Rolling Stones, David Bowie, Van Morrison oder Bob Dylan gemacht haben. Heute würde man wahrscheinlich versuchen, alles zu perfektionieren – und das ist ein Fehler. Ich liebe diese alten Aufnahmen, weil sie einfach echt sind.
Noch keine Kommentare