laut.de-Kritik

Hier kommt kein einziger Sonnenstrahl mehr durch.

Review von

"I am the voice inside your head / and I control you."

"The Downward Spiral" beginnt mit einem Sample aus George Lucas' Erstlingswerk "THX 1138", einer beklemmenden Science-Fiction-Studie über den Identitätsverlust des Einzelnen. 32 Schläge, die auf den hilflosen Körper eines Gefangenen einschlagen - dumpf, tief, zermürbend.

Mit Schlag 33 und den ersten Takten von "Mr. Self Destruct" brechen Chaos und Hass los. Trent Reznor stellt uns die Hauptfigur seines Konzeptalbums vor. Mit ihr driften wir in den folgenden rund 60 Minuten immer weiter in der Abwärtsspirale nach unten, immer tiefer in den Kaninchenbau, bis zu einem Ort, an dem keiner von uns je ankommen mag. Dort wird das Boot dann wie eine Nussschale zerquetscht.

Derweil brechen wir auf dem Weg mit unseren Mitmenschen, Gott und mit uns selbst. Die einzigen Begleiter bleiben Wut und Gewalt, am Ende steht der Suizid. Textfragmente wie "God is dead and no one cares" oder "I want to fuck you like an animal" wirken im ersten Moment etwas plump provokant, fügen aber im Gesamtbild ein rohes und einschüchterndes Monster zusammen. Die Interpretationen der Musik und der Texte gehen dabei ins Mannigfaltige.

"Hey pig piggy pig pig pig, all of my fears came true ... / my little piggy needed something new

Sharon Tate, Schauspielerin und Frau von Roman Polanski, ist am 9. August 1969 im achten Monat schwanger. Es ist der Tag, an dem Charles Manson die Songs "Helter Skelter" und "Piggies" von den Beatles stiehlt. Anhänger seiner Familie brechen in das Haus der Polanskis ein und bringen Tate und ihren Besuch auf grauenhafte Art und Weise ums Leben. Mit dem Blut der Leichen hinterlassen sie Nachrichten an Wänden, schreiben an den Kühlschrank "Healter Skelter", auf die Eingangstür "Pig".

Gut zwanzig Jahre später richtet sich Reznor in eben diesem Haus ein eigenes Studio ein und nennt es "Le Pig". Hier entstehen ein Teil der Aufnahmen zur EP "Broken", das Debüt von Marilyn Manson sowie "The Downward Spiral".

Eher zufällig begegnet Reznor am Ende der Aufnahmen der Schwester von Sharon Tate. In einem Interview mit dem Rolling Stone ruft er sich das Treffen ins Gedächtnis zurück: "Sie fragte mich, ob ich den Tod ihrer Schwester durch meinen Aufenthalt an diesem Ort ausnutzen würde. Ich antwortete: 'Nein, es ist mein Interesse an der amerikanischen Folklore. Ich bin hier an einem Platz, an dem ein seltsamer Teil der Geschichte passiert ist.' Zum ersten Mal begriff ich aber, was hier wirklich geschehen ist. Sie hat hier ihre Schwester verloren. Fuck Charlie Manson. Ich ging nach Hause und weinte die ganze Nacht."

Reznor zog im Dezember 1993 aus. "Ich konnte die Geschichte, die überall im Haus zu spüren war, nicht mehr ertragen." Als Erinnerung nahm er die Eingangstüre mit.

"Nothing can stop me now / I don't care anymore."

Statt fertige Tracks mit ins Studio zu nehmen, improvisierte Reznor zusammen mit Produzent Flood an selbst gestalteten Samples. Gastmusiker wie Stephen Perkins und Adrian Belew nahmen dreißigminütige Takes auf. Aus den besten Stellen legte man Loops zusammen, um sie herum experimentelle Soundscapes. Auf diese Weise entstanden bis ins Detail durchstrukturierte Wutausbrüche zwischen Industrial, Techno und Heavy Metal, gefolgt von melodischen, reduzierten, fast schweigenden Synthesizerparts. Das Gegensätzliche bildet eine garstige Phalanx, durch deren düstere Schilder kein einziger Sonnenstrahl mehr passt.

"Mit 'Downward Spiral' habe ich versucht, ein Album aufzunehmen, das nicht nur eine Seite, sondern das ganze Spektrum von Nine Inch Nails zeigt. Es soll die Palette erweitern und verhindern, dass wir in eine Schublade gesteckt werden. Dem geht eine bewusste Entscheidung voraus, mich auf die Textur und den Raum zu fokussieren, statt eine Stunde lang mit der Gitarre auf deinen Kopf zu hauen."

Als größten Einfluss nannte Reznor wiederholt das David Bowie-Album "Low", das er zu jener Zeit häufig hörte. "A Warm Place" zitiert sogar Bowies "Crystal Japan" (1980). Auch andere Größen wie Joy Division, Bauhaus und, naja, Soft Cell hatten ihren Einfluss. So findet sich zum Beispiel das Schlagzeug von Iggy Pops "Nightclubbing" in stark verzerrter Weise im schwelenden "Closer", "Mr. Self Destruct" teilt sich den Titel mit einem Track vom Soft Cell-Longplayer "This Last Night In Sodom".

"I am a big man (yes I am) / and I have a big gun ... / maybe I'll put a hole in your head / you know, just for the fuck of it."

Nach dem 20. April 1999 sollte Reznor am eigenen Leib erfahren, wie es sich anfühlt, wenn man mit seinen Songs wie ein "Piggy" durchs Dorf gejagt wird. Sein 'Manson' überkam ihn in Gestalt der beiden Teenager Eric Harris und Dylan Klebold, die in der Columbine High School im US-Bundesstaat Colorado bei einem Amoklauf zwölf Schüler, einen Lehrer und am Ende sich selbst töteten.

Für die eher konservativ gestrickten Gemüter war es ein Leichtes, in Filmen wie "Matrix", der Musik von Marilyn Manson und eben in Renznors "Big Man With A Gun" die Hauptschuldigen für das Verbrechen zu finden.

Das Stück selbst ist eineinhalb Minuten Adrenalin, Hass und Lärm in reinster Form. Der Protagonist von "The Downward Spiral" scheint nach dem Abstreifen des Glaubens und all seiner Menschlichkeit in seiner persönlichen Hölle angekommen zu sein. Statt eigener Freiheit wählt er Willkür und Gewalt, Attribute, die er vorher noch Gott zugeschrieben hatte.

"Das Album stand kurz vor seinem Abschluss. Die Lyrics hatte ich sehr schnell geschrieben und ich wusste nicht einmal, ob ich sie benutze oder nicht", erinnert sich Reznor. "Für mich baut 'Downward Spiral' Wahnsinn auf, bis sich schließlich alles schlagartig ändert. 'Big Man With A Gun' ist die letzte Stufe des Deliriums. Aber ich wollte mich auch ein wenig über Gangsta-Rap lustig machen. Ich höre ihn zwar gerne, könnte aber auch gut ohne all den Frauenhass und die Beschimpfungen darin auskommen. Dann wurde mein Song aus seinem Kontext gerissen und genau das in ihn hineininterpretiert. Es ist lächerlich."

"What have I become / my sweetest friend / everyone I know / goes away in the end."

Doch nicht der finale Schlussstrich im Song "The Downward Spiral" bleibt hängen und bewegt, es sind die Einsichten, die danach in "Hurt" folgen und uns noch mehr dank Johnny Cash in Erinnerung bleiben. Ein letzter bitterer Blick zurück. Am Ende des Weges bleibt nur ein "Imperium aus Dreck", ein vergeudetes Leben. Das Finale von "The Downward Spiral" spiegelt ein Abbild des modernen Lebens in einer Welt aus absoluten Ideologien wider, die wir selbst schon lange nicht mehr im Griff haben. Sie verspricht uns Freiheit und bietet nur Stagnation, Missbrauch und Selbstzerstörung. Ein düsteres Weltbild.

Die Sperrigkeit des Longplayers stand dem großen kommerziellen Erfolg nie im Weg. Für Reznor selbst wurde es zu einer Prophezeiung. Nach den Aufnahmen und vor der folgenden Tournee noch ganz Herr seiner selbst, spuckten die folgenden Monate ein seelisch kaputtes Alkohol- und Drogenwrack aus.

Dabei hatte der Amerikaner nun einen Status erlangt, der nur wenigen Künstlern zugedacht ist. War er zu Beginn der Arbeiten an "The Downward Spiral" noch ein Musiker, der sich von seinen Idolen inspirieren ließ, wurde Trent Reznor ab 1994 selbst zur Inspiration für nachfolgende Musiker.

"Now doesn't it make you feel better / the pigs have won tonight / they can all sleep soundly / and everything is all righty."

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Mr. Self Destruct
  2. 2. Piggy
  3. 3. Heresy
  4. 4. March Of The Pigs
  5. 5. Closer
  6. 6. Ruiner
  7. 7. The Becoming
  8. 8. I Do Not Want This
  9. 9. Big Man With A Gun
  10. 10. A Warm Place
  11. 11. Eraser
  12. 12. Reptile
  13. 13. The Downward Spiral
  14. 14. Hurt

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Nine Inch Nails

"I hurt myself today, to see if I still feel." ("Hurt", 1994) Eine Zeile, die der große Johnny Cash siebzigjährig zu seiner Gitarre sang, die aber …

65 Kommentare mit 13 Antworten

  • Vor 8 Jahren

    Hab den Hurt Song bei Rick & Morty gehört. Richtig gut.

  • Vor 7 Jahren

    Sorry, aber Original von Hurt kommt nicht an das Cover des Man in Black heran.

  • Vor 9 Monaten

    Neulich erstmals.
    Gefällt mir.

    • Vor 9 Monaten

      Bitte WAS???
      ... direkt ma Zauselhausaufgaben machen, ma sagen!

    • Vor 9 Monaten

      DAAAYUUUM. :D

      Für nen Musikinteressierten wie dich streng genommen ebenfalls ein wenig zu nah an: "OK Computer? Nie gehört." um unbehelligt diese Kanone auf andere abfeuern zu dürfen. :lol:

      Ich kann hier latürnich erkennen, warum Sven, der Anwalt, ganz laut.de sowie der internationalen Musikkritik ihre Mudda immer wieder die "Downard Spiral" als DEN NIN-Meilenstein definieren, aber ich mag "The Fragile" trotzdem lieber, deutlich mehr noch gewinnt dort der Kopffick im ständigen Gerangel mit der puren Wut im Bauch die Oberhand, ohne an eindrücklich transportiertem individuellen Abfuck des Erschaffers einzubüßen. Vor allem aber eines der wenigen (Doppel!-)Alben dieses Genres und sämtlicher seiner z.T überlappenden Anrainer, in denen die Verwendung eines musikalischen Leitmotivs so ausnehmend gut geglückt ist, dass es im ersten Absatz einer jeden stilvollen Besprechung zu dieser Platte hervorgehoben werden sollte.

      Unabdinglicher STISO-Befehl! :mad:

    • Vor 9 Monaten

      "Ich kann hier latürnich erkennen, warum Sven, der Anwalt, ganz laut.de sowie der internationalen Musikkritik ihre Mudda immer wieder die "Downard Spiral" als DEN NIN-Meilenstein definieren, aber ich mag "The Fragile" trotzdem lieber ..."

      ²

    • Vor 9 Monaten

      "aber ich mag "The Fragile" trotzdem lieber"

      Geht mir auch so. Bin auch immer wieder erstaunt wenn ein Song davon bei mir durch die Playlist rauscht, wie das Album für mich zumindest wirklich null gealtert ist und immernoch taufrisch klingt. Was halt auch nicht auf alle Klassiker zutrifft.

      "ohne an eindrücklich transportiertem individuellen Abfuck des Erschaffers einzubüßen"

      Wobei sich das Album in Sachen emotionaler Rezeption schon für mich gewandelt hat. Manche Songs gehen noch immer emotional ziemlich nahe, andererseits ist aber auch vieles dabei, was bei nüchterner Betrachtung schon mindestens ein bisschen cringe und edgelordig ist. Was dem Album da aber zugute kommt, ist einerseits, dass natürlich trotzdem ziemlich deutlich ist, dass der gute Trent das alles in dem Moment auch so und stark gefühlt hat und andererseits, dass The Fragile halt auch eine mMn vollkommen unterschätze etwas schrägere, over-the-toppigere Schlagseite, die halt auch einfach genuin slapp... äh Spaß macht und die NIN-typische Düsternis mitunter ziemlich hart bricht.
      "Where is Everybody?" z.B ist schon ziemlich dämlich im besten Sinne und wenn man sich auf diese Teilfacette des Albums einlässt, dann kann man sich auch von Songs wie z.B. "No, You Don't" ziemlich gut mitreißen lassen, selbst wenn man die dahintersteckebde Wut aus der eigenen emotionalen Perspektive als ein bisschen aufgesetzt empfindet.

      Andere NIN-Alben machen es da eibem teilweise etwas schwieriger, weil sich vieles da halt nur auf der düster/ernsten Ebene rezipieren lässt. Wobei Reznor natürlich schon von Stunde null auch schon immer einen Hang zum poppigeren hatte.

    • Vor 9 Monaten

      Sounddesign (aber aus heutiger Sicht definitiv nicht mehr die Klangqualität diverser Digi-Synthmodule), insbesondere aber Verschmelzung der Synths und organischen Instrumente bzw. das anscheinend immer wieder übergangslose stärkere Akzentuieren eine der beiden musikalischen Ausgangssituationen "Electro vs. Bandkram" innerhalb der Songs war und bleibt in Teilen bis heute ne Benchmark für meinen eigenen Solo-Kram und den vieler anderer Menschen, deren Kram ich häufiger höre.

      Ansonsten vollste Zustimmung @gleepi. Ja, auch zur Edgelord-Cringe-Passage, obwohl da die nostalgisch-emotionale Besetzung der Platte meine Schotten zumeist wasserdicht hält.

      Für meinen eigenen inneren Edgelord muss "No, you don't" wohl sogar als ständig begleitendes Theme Tune gelten, keine andere Zeile eines anderen Songs ist mir insbesondere in der Weiterbildung und den ersten Jahren danach so oft bei Aussagen innerhalb der Eigenanamnese diverser Patient*innen unerwarteter und intrusiver in den Kopf geschossen wie diese. :/

    • Vor 9 Monaten

      Starker Platz 2 sicher: "IT didn't turn out the way you wanted it to. It didn't turn out the way you wanted it, did it?", kuschelig nah an der lyrischen Creme de la Cringe auf "The Fragile". :)

    • Vor 9 Monaten

      The Fragile war in der Tat das zweite Albung von NIN, was ich gehört habe. Finde beide sehr stark.

    • Vor 9 Monaten

      Uuuuuh... Ich muss "The Fragile" an der Stelle auch sehr hypen... Da stimmt einfach alles. Vor allem finde ich es trotz einer viel sanfteren, vielfältigeren Arrangementkulisse noch viel, viel, viiiiel düsterer als "The Downward Spiral". Die hilflose Wut hatte sich in eine viel ehrlichere, tiefe Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit verwandelt. Sie trifft so tief ins Herz, daß ich mich innerlich vorbereiten muss, um sie anzuwerfen - es ist gar nicht mal so sehr der große Umfang.

      Vieles nach TDS war auch sehr groß - ein so in sich stimmiges, packendes Komplettwerk brachte Trent danach leider nicht mehr heraus. ♥

    • Vor 9 Monaten

      Mag aus Gründen die "Pretty Hate Machine" am liebsten, obwohl das obv nicht Reznors größter Wurf ist.

    • Vor 9 Monaten

      "Die hilflose Wut hatte sich in eine viel ehrlichere, tiefe Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit verwandelt."

      In dem Bezug möchte ich hier noch einmal "Still" und davon insbesondere "And All That Could Have Been" und "Leaving Hope" einwerfen. Die Platte gehört für mich als gelungener Schlusstupfer noch mit zum "The Downward Spiral"-"The Fragile Arc"

      https://music.youtube.com/playlist?list=OL…

    • Vor 9 Monaten

      Ja, schicke Folge-Releases, die immer etwas unter dem Radar liefen...

      Und ja, "Pretty Hate Machine" hatte so einen wunderbar düsteren Funk, den ich in ähnlicher Form seltenst gehört habe. Ist auch schon ein ziemliches Unikat gewesen, und hätte gerne mehr Einfluss auf die Gruftiszene haben dürfen, die traditionell eher weniger afroamerikanische Einflüsse zulässt.

    • Vor 9 Monaten

      Ich hol mal weiter aus, wenn ich hier mit meinen Aufgaben fertig bin.