laut.de-Kritik

Wie eine verkleidete Bibliothekarin in der dörflichen Karaoke-Bar.

Review von

Als begnadete Performerin ohne relevantes Songwriter-Talent hat man es nicht leicht. Dementsprechend war Tina Turners Output zeitlebens von wechselnder Qualität.

Nach einer Flut belangloser bis ärgerlicher Best Of-Compilations durfte man sich zu Recht fragen, ob das Live-Comeback mit 70 Jahren peinlich oder triumphal werden würde. Andererseits zieht es sich wie ein roter Faden durch das Leben von Anna Mae Bullock, dass sie künstlerisch unterschätzt, belächelt oder abgeschrieben wurde. Doch das ist alles blanker Unsinn. Die Queen Mum des Rock'n'Soul ist auch im biblischen Showbiz-Alter ein unaufhaltsamer Taifun; eine Naturgewalt, die jeden kritischen Einwand spielend knickt wie ein Streichholz.

Vergesst alle cheesy Arrangements, alle kitschigen Duette, die Ramazzotti und co eingeredet haben. Vergesst alle überfordert hohlen Hupfdohlen von Britney bis Rihanna. Gegen Tina Turners vollkommen unpeinliche, schwitzende Leidenschaft für die Bühne wirkt sogar eine Beyonce ungefähr so spannend, wie eine verkleidete Bibliothekarin in der dörflichen Karaoke Bar. Das hat mehrere Gründe. Zum einen setzt die Legende aus Tennessee endlich wieder auf schnörkellose, knackig treibende Arrangements der rockigen Sorte. Zum anderen befindet sie sich körperlich - und vor allem stimmlich - eben nicht in der popmusikalischen Geriatrie. Das Stehauf-Weibchen aus Nutbush schreit und tobt über die Bühne, als hinge ihr Leben davon ab.

"Steamy Window" haut uns zum Einstieg gleich den Presslufthammer um die Ohren. Das hat in keiner bislang veröffentlichten Version annährend solch eine Power verströmt. "Better Be Good To Me" und "Acid Queen" bringen dann auch schon nach ca 20 Minuten den ersten Vulkanausbruch. Samt Bratzgitarren und perfekter rhythmischer Lightshow! Was nur ist das Geheimnis dieser berstenden Vorstellung? Ganz einfach: Tina Turner versucht nicht - im Gegensatz zu vielen Sängern - den jeweiligen Evergreen gezähmt routiniert abzunudeln. Sie bringt stattdessen auch dem ausgelutschtesten Gassenhauer mit ihrem Soul durchtränkten Blut noch zur alles verzehrenden Explosion.

Eine derart intensive Atmosphäre in recht unpersönlichen Stadien und großen Hallen zu verströmen, geht auch nur mit dem einzigartigen Charisma der Ehrenbürgerin von Nutbush. Dabei kann sie stets beruhigt auf ihr Talent setzen, sogar Coverversionen anderer Ikonen jederzeit scheinbar mühelos zu erobern. "Jumping Jack Flash/It's Only Rock'n'Roll" muss sich nicht im Mindesten hinter den alten Turner-Kumpeln Mick Jagger und Keith Richards verstecken. Bei dem lasziven "Addicted To Love" dreht Robert Palmer sich sicherlich nicht vor Scham im Grabe um. Und bei der herrlich atmosphärischen "Proud Mary" Interpretation denkt auch niemand an Creedence Clearwater Revival.

Nach deutlich mehr als zwei Stunden pausenlosen Feuerwerks setzt eine sichtlich gerührte Tina Turner mit "Nutbush City Limits" sogar energetisch noch eine Schippe drauf. Der beschaulich salonbluesige Ausklang "Be Tender With Me Baby" rundet das Bild geschmackvoll ab.

Gibt es also so gar keine Kritikpunkte? Das typisch Amerikanische, also die Überpräsenz von Tänzern und anderen eingestreuten Showeffekten kann einem schon mal sauer aufstoßen; ja, regelrecht auf den Wecker gehen. Aber dies ist eher Ausdruck des mitunter nicht gerade kleinen kulturellen Unterschieds und nicht wirklich verwerflich. Der geneigte Fan bekommt zudem sehr viel für seine Taler. Zum Preis einer CD gibt es den Gig komplett als Doppel-DVD/CD-Package. Der kristallklare und druckvolle Sound tut sein Übriges für ein bunt erfülltes Heimkino-Konzert. They never come back! heißt ein altes und pessimistisches Sprichwort. Die 70jährige Grande Dame des Rocksoul wird sich hierüber nicht einmal zu einem müden Lächeln herablassen.

Trackliste

CD

  1. 1. Steamy Windows
  2. 2. River Deep, Mountain High
  3. 3. What You Get Is What You See
  4. 4. Better Be Good To Me
  5. 5. What's Love Got To Do With It
  6. 6. Private Dancer
  7. 7. We Don't Need Another Hero
  8. 8. Let's Stay Together
  9. 9. Jumping Jack Flash
  10. 10. It's Only Rock'n'Roll
  11. 11. Golden Eye
  12. 12. Addicted To Love
  13. 13. Simply The Best
  14. 14. Proud Mary
  15. 15. Nutbush City Limits

DVD

  1. 1. Instroduction Music (Instrumental)
  2. 2. Steamy Windows
  3. 3. Typical Male
  4. 4. River Deep, Mountain High
  5. 5. What You Get Is What You See
  6. 6. Better Be Good To Me
  7. 7. Ninja Chase (Instrumental)
  8. 8. Acid Queen
  9. 9. What's Love Got To Do With It
  10. 10. What's Love Got To Do With It (Reprise with Audience)
  11. 11. Private Dancer
  12. 12. Weapons Sequence (Instrumental)
  13. 13. We Don't Need Another Hero
  14. 14. Help
  15. 15. Let's Stay Together
  16. 16. Undercover Agent For The Blues
  17. 17. I Can't Stand The Rain
  18. 18. Jumping Jack Flash
  19. 19. It's Only Rock N Roll
  20. 20. Flamenco
  21. 21. Golden Eye
  22. 22. Addicted To Love
  23. 23. The Best
  24. 24. Proud Mary
  25. 25. Nutbush City Limits/Tender With Me

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38 Kommentare mit 2 Antworten

  • Vor 15 Jahren

    schöne review :)

    Tina live , ist ja immer was besonderes von daher freut es mich das in der form auch zu lesen

  • Vor 15 Jahren

    Tina schon 70? Kaum zu glauben! Und dann so agil. Respekt.

    Was anderes, was mir gerade so auffällt:

    Wer in der Redaktion entscheidet eigentlich über diese kurzen Teaser-Sätze unter der Überschrift für die Reviews (auf Seite 1)???
    Wahrscheinlich nicht der Rezensent selber? Und hat derjenige, der den Teaser-Satz so herausnimmt dann überhaupt die Rezension gelesen ???

    Etwas missverständlich und unglücklich wenn dann da steht "Wie eine verkleidete Bibliothekarin in der dörflichen Karaoke Bar."
    weil man ja nicht wissen kann, dass es sich auf Beyonce bezieht und nicht auf TT - und man so folglich einen Total-Verriss erwartet (und diesen auch weiterhin vermutet wenn man nicht selbst aus Interesse mal auf den Artikel klickt und dann verwundert auf 4 Redaktionspunkte blickt ...).