laut.de-Kritik

Hommage an die 80s-Pop-Band unter Mithilfe von Steven Wilson.

Review von

Vier CDs, zwei Blu-rays, 109 Songs, davon 19 bislang unveröffentlicht: Die großen Ultravox-Nostalgiewochen gehen weiter. Angesichts der ebenfalls bei Chysalis erschienenen Deluxe-Editions ihrer Studioalben "Vienna" (1980), "Rage In Eden" (1981), "Quartet" (1982) und "Lament" (1984) weiß der Fan, was die Stunde geschlagen hat. Das "The Collection"-Package im LP-Format ist erneut edel gestaltet und bietet inhaltlich den erwartbar ausführlichen Rückblick.

Detaillierte Credits aller Songs, jeder Live- und TV-Auftritt exakt datiert sowie gleich zwei hochformatige Booklets, in denen die tollen Visuals und Grafiken von Peter Saville (vor allem bekannt dank seiner New Order-Artworks) entsprechend zur Geltung kommen. Garniert mit zahlreichen Bandfotos und ausgewählten Songtexten transportiert einen damit auch der nichtmusikalische Boxinhalt zurück in die 80er Jahre - eine Mastertape-Abbildung der letzten Ultravox-Single "All In One Day" von 1987 auf einer VHS-Kassette hätte es da gar nicht gebraucht.

Die Box verharrt dabei nicht in der Vergangenheit und spannt einen Bogen ins Jetzt, zumindest bis ins Jahr 2012, als sich die klassische Ultravox-Besetzung dieser Box-Ära bestehend aus Sänger Midge Ure, Keyboarder Billy Currie, Drummer Warren Cann und dem mittlerweile verstorbenen Bassisten Chris Cross 28 Jahre nach dem Album "Lament" für ein Studio-Comeback wieder zusammenrauften.

Die Platte hieß nicht nur "Brilliant", sie fungierte als verdientes und weithin respektiertes Happy End. Ure und Co. dürfte es damals nur schwer entgangen sein, dass etwa die Superstars von Muse beachtliche Teile ihres hymnischen Drama-Pops in einen neuen Kontext stellten. So kehrten die Fiftysomethings zurück als gereifte Songwriter, die ihr musikalisches Erbe mühelos weiterführten und sich auf "Brilliant" als Einheit präsentierten, sozusagen als "Quartet".

"The Collection" erschien 1984 als Destillat der vier Alben seit Midge Ures Einstieg und wurde schnell zum Megaseller. Die meisten dürften mit Ultravox zwar vor allem die drei Über-Hits "Dancing With Tears In My Eyes", "Hymn" und "Vienna" verbinden, die vorliegende Best-Of zählt mit Depeche Modes "The Singles 81-85" und Duran Durans "Decade" jedoch zu den prägenden Compilations des Jahrzehnts.

Einen New-Wave-Track wie "The Thin Wall" erwartet man vielleicht eher von Tears For Fears: Den hastigen Drumcomputer und die weichen Synths konterkariert bald eine schöne Gitarrenline. "The Voice" legt titelgemäß die Aufmerksamkeit auf Ures durchdringendes Organ, ein weiteres Highlight. "One Small Day" wiederum ist gar nicht so weit weg vom Stadionrock-Pathos, wie sie ihn die Kollegen U2 auf "The Unforgettable Fire" gerade ausformulierten.

An zahlreichen Songs wird deutlich, warum der Co-Autor der 1985er Charity-Single "Do They Know It's Christmas" als Hauptarchitekt anspruchsvollen 80er-Pops gilt, was an einem Musiknerd wie Steven Wilson natürlich nicht vorbeigeht. Der Porcupine Tree-Mann ist nicht nur bei Remastering-Aufträgen von Black Sabbath ("Vol 4") oder Pink Floyd ("Pompeii"), gut aufgehoben, auch die Ultravox-Heuler entstaubt er vorbildlich.

Beim "Steven Wilson Single Mix" von "The Thin Wall" merkt man erst, wie unscheinbar das Original klingt. Die neue Version prescht richtiggehend nach vorne, tönt heller, kräftiger, dynamischer. Mit dem 1984er Albumtrack "White China" krallt er sich außerdem einen Song, der gar nicht auf "The Collection" vertreten war. Auf großes Interesse dürfte sein neuer 12"-Remix von "Hymn" stoßen, das Wilson auf sagenhafte 10.45 Minuten aufpumpt, ohne dabei zu langweilen. Warum sollte sich auch ein Mann wie Wilson nicht mit der Kunst von "Extended Versions" auskennen?

Der Witz ist, dass sich Ultravox diesem Trend damals gar nicht anschlossen, so dass man nun erstmals in den Genuss von Langversionen ihrer großen Hits kommt. Diesen Spaß wollte sich auch Ure selbst nicht nehmen lassen, der sich "All Stood Still" vornahm. Ebenfalls mit Sonderrechten ausgestattet wurden Blank & Jones, die glücklicherweise für einen schmerzfreien Neuanstrich von "Love's Great Adventure" sorgen.

Eine Band ist nur so gut wie ihre B-Seiten, sagt ein Pop-Mythos, und auch hier enttäuschen Ultravox nicht. "Alles Klar" und "Herr X" lassen nicht nur im Titel die Faszination der Band für Kraftwerk erkennen, es sind sehnsuchtsvolle, teilweise spooky Elektro-Kompositionen, letzterer sogar mit deutschen Lyrics von Drummer Cann.

Die Blu-rays bergen natürlich dann die volle Breitseite 80er: Ure noch mit seinem legendären Schnauzbart und der damalige Trend, ein tanzendes Discotheken-Publikum in einem TV-Studio nachzustellen. Und natürlich gehörte damals Vollplayback zum guten Ton ("Hymn" in der Kenny Everett Show 1982). Schön zu beobachten ist auch, wie Ultravox zu "Vienna"-Zeiten noch regelrecht Keyboard-Burgen auffahren und diese nach und nach abbauen, bis sie Mitte der 80er mit Bläsern und Backgroundsängerinnen nicht mehr von einer x-beliebigen Popband zu unterscheiden sind.

Eine Veröffentlichung, die die große Zeit von Ultravox nun würdig beendet, denn nach "Lament" implodierte die Band zusehends. Fans der frühen Ultravox mit Ure-Vorgänger John Foxx werden dagegen weiter vergeblich auf eine ähnliche Behandlung der Alben vor 1980 warten, da Island Records an einem aufwendigen Remastering aufgrund der geringen kommerziellen Aussichten wenig Interesse haben dürfte.

Midge Ure jedenfalls ist hochzufrieden mit dem Job von Chrysalis: "Wir arbeiten mit ihnen, weil sie mit derselben Sorgfalt vorgehen wie wir. Sie sind in diese Archive wie in modrige alte Keller hinabgestiegen, um sich durch das ganze Material zu hören, es zu sichten und zu digitalisieren - das war fast schon wie bei Harry Potter."

Trackliste

The Collection

  1. 1. Dancing With Tears In My Eyes
  2. 2. Hymn
  3. 3. The Thin Wall
  4. 4. The Voice
  5. 5. Vienna
  6. 6. Passing Strangers
  7. 7. Sleepwalk
  8. 8. Reap The Wild Wind
  9. 9. All Stood Still
  10. 10. Visions In Blue
  11. 11. We Came To Dance
  12. 12. One Small Day
  13. 13. Love’s Great Adventure
  14. 14. Lament

The Collection II

  1. 1. All Stood Still (Alternative Version)
  2. 2. The Thin Wall (Steven Wilson Single Mix)
  3. 3. Serenade
  4. 4. White China (Steven Wilson Remix Edit)
  5. 5. Brilliant (Radio Edit)
  6. 6. Same Old Story
  7. 7. Hymn (Alternative Version)
  8. 8. New Europeans (Moments From Eden Live)
  9. 9. Rise (Live)
  10. 10. Live (Single Edit)
  11. 11. Lament (Alternative Version)
  12. 12. All Fall Down (Radio Edit)
  13. 13. All In One Day (Single Edit)
  14. 14. Vienna (Alternative Version)

The Re-Mixes

  1. 1. Hymn (Steven Wilson 12" Re-Mix)
  2. 2. Sleepwalk (Steven Wilson 12" Re-Mix)
  3. 3. The Thin Wall (Steven Wilson 12" Re-Mix)
  4. 4. Visions In Blue (Steven Wilson 12" Re-Mix)
  5. 5. Reap The Wild Wind (12" Re-Mix Extra)
  6. 6. Love's Great Adventure (Blank & Jones So8os Reconstruction)
  7. 7. All Stood Still (Midge Ure 12" Re-Mix)
  8. 8. New Europeans (Extended Re-Mix Extra)
  9. 9. Same Old Story (12" Re-Mix)
  10. 10. We Came To Dance (12" Re-Mix)

The B-Sides

  1. 1. Waiting
  2. 2. Passionate Reply
  3. 3. Herr X
  4. 4. Alles Klar
  5. 5. Keep Talking (Cassette Recording During Rehearsal)
  6. 6. I Never Wanted To Begin
  7. 7. Paths And Angles
  8. 8. Hosanna (In Excelsis Deo)
  9. 9. Monument
  10. 10. Break Your Back
  11. 11. Overlook
  12. 12. Easterly
  13. 13. Building
  14. 14. Heart Of The Country (Instrumental)
  15. 15. Man of Two Worlds (Instrumental)
  16. 16. 3
  17. 17. All In One Day (Instrumental)
  18. 18. Dreams?
  19. 19. Stateless

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2 Kommentare mit 3 Antworten

  • Vor 18 Stunden

    Ich gehöre auch zu den John Foxx Fans von Ultravox, fand gerade das Hahahaha Album echt genial, als junger Punk fand ich die Schnittstelle Zwischen Punk und Wave genial und faszinierend und hat mich kurze Zeit später zu Bands wie The Wire und Gang of Four und so gebracht....
    Mag aber die 80er Ultravox auch sehr gerne um Missverständnisse zu vermeiden...^^

  • Vor einer Stunde

    Gute und angemessene Review. Allerdings stimmt die Aussage zur Verweigerung des Trends zu extended Mixes nicht ganz. Ab dem Lament-Album gab es alle Singles auch in verlängerten Remixes. One Small Day 07:50, Dancing With Tears In My Eyes 10:02, Lament 08:02. Langversionen von White China 08:23, (andere) One Small Day 08:31 und (gleiche) Lament 08:01 waren auf der Original-CD-Ausgabe des Lament-Albums. In der UK-Erstausgabe von The Collection gab es limitiert eine zweite Platte mit sechs langen Remixes, benannt The 12" Collection.