laut.de-Kritik

Conscious Gangsterrap.

Review von

Kurz nachdem ich bei Flers "Fler" noch mutmaßte, wie und ob es mit dem Nordstern der deutschen Raplabellandschaft weiter ginge, kollabierte das mehr und mehr erstarrende Firmament endgültig. Manche fanden das längst überfällig, für andere brach eine Welt zusammen. Fakt ist: Aggro Berlin ist Geschichte - und das ist auch gut so. Bevor jetzt aber ein besonders tüchtiger Stoßtrupp maskierter Berliner auszieht, einen respektlosen Redakteur zu vermöbeln, lasst mich das kurz erklären.

Was das Sägeblatt in den vergangenen acht Jahren geschafft und geschaffen hat, halte ich für eine bis dato beispiellose Laufbahn aus der Asi-Nische in die Bohlen-Charts, vulgo: vom Bordstein zur Skyline. Kleinbürgerliche Realness-Patzer in der Gangster-Vita, schwule Business-Moves und einige andere, in der Szene heiß diskutierte Aktionen sind dem Label, das die Fresse gerne so weit aufriss, ohne weiteres zu verzeihen. Denn so kompromisslos und gleichzeitig erfolgreich hat noch kein anderer Hip Hop-Verein ein Konzept, das von A wie Auftreten bis Z wie Zensur funktioniert, umgesetzt. Doch hier lag auch genau das Problem: Ab 2005 begann der kochende Stahl langsam zu erstarren und die 24/7 propagierte Unbeugsamkeit lähmte eben auch das, was der Zeitgeist nun einmal unablässig fordert: Flexibilität. Und an dieser Stelle kommt Selfmade ins Spiel.

Das Düsseldorfer Label kommt zum inzwischen zweiten Mal mit einem bunten Kanon an Rappern um die Ecke, der das wiederbelebt, was Aggro Berlin mit gnadenloser Härte einzementiert hat: Weiterentwicklung. Chronik II feiert Deutschrap in fast allen Facetten, die er bieten kann und zeitigt dabei einen Querschnitt, bei dem Straße und Affront an Herz und Nieren gehen. So unvereinbar das nach fast zehn Jahren strikter Trennkost klingen mag, so wohltuend fällt nun diese Sampler gewordene Katharsis aus. Hier wird im einen Moment klischeegebeutelten Forderungen nach Bitch, Benz und Ballermann bravourös nachgekommen, um im nächsten die Backpacker mit dramatischer Ergriffenheit und wohligen Schaudern zu erfüllen. Das Ganze nicht messerscharf voneinander getrennt, sondern verschmolzen zu einer Einheit, die sich aus eben dieser Abwechslung nährt.

Als erstes, weil jüngstes und am weitesten aus den Reihen tanzendes Mitglied des Selfmade-Stalls wäre hier Casper zu nennen. Der "Punker, der besser spittet als Pisser zur Zeit" und rein äußerlich tatsächlich am ehesten im Vice-Magazin beheimatet ist, reißt ordentlich einen vom Leder: Ob als Teamplayer in Possetracks, im Duett mit Enfant terrible Marteria oder auf introvertierten Solonummern wie "Vatertag" - Casper ist das wohl anschaulichste Beispiel für die oben beschriebene Symbiose im Spannungsfeld zwischen Waffenlauf und Nabelschau. Das raue Organ, getrieben von unbändigem Drive, lässt althergebrachte Scheuklappen-Zweifler und oberflächliche Emo-Vorwürfe ganz, ganz weit draussen im verregneten Ghettoabseits stehen. Die Nummer "Elefant" macht das auf unkompromittierbare und charmante Art deutlich.

Der nächste Kandidat in dieser Reihenfolge ist demnach Shiml, dem Konvention und Schablonendenke ähnlich fern liegen, dessen Handschrift aber deutlich konturierter ist: An sich ebenfalls eher in nachdenklichen Gefilden beheimatet, wie er "Mit Jedem Atemzug" beweist, macht auch der 3000-Watt-Bremer keine Anstalten, vermittels dem Selfmade-Zepter einer Axt gleich jedwede Gegner-Reihen zu fällen. Wenn Reason das Patent auf den Amboss unter den Stimmen innehat, dann wird Shiml mit seiner kraftvoll-präzisen Art der Titel des Dolchmörders unter den lyrischen Kampfkünstlern zuteil.

Mehr mit der Richtung klassischer Bombenleger hält es wie eh und je der Selfmade-Grundstein Favorite. Rotzfrech reitet der Sittenstrolch mal alleine, mal mit Feature-Soldat Olli Banjo in den "Krieg", denn das ist und bleibt seine Heimspiel-Turnhalle. Ausufernder Battlerap mit mehr oder weniger konkretem Namedropping und einer Attitüde zwischen Scheißegal und Guckmalhier - ein Borderline-Patient mit chronischem Punchline-Zwang. Fühlt er sich wie "Superman", lässt sich zwar noch Spielraum nach oben attestieren, betrachtet er hingegen ironieschwanger und selbstkritisch sein "Lebenswerk", bleibt nur eines: Kopfnicken.

Eyy, eyyy, damit wären wir am anderen Ende des Selfmade-Kaleidoskops angelangt, wo Deutschrap-Aspirant und Verbalakrobat Kollegah "in einem Anfall von Bescheidenheit seine Platinkette vergolden" lässt. Ohne Frage: Toni ist formal betrachtet nicht nur der selbsternannte Boss, sondern nach wie vor ein Entertainer erster Güte. So sehr er mit seinem Auftreten vor der Kamera ein (ich nehme an unfreiweillig) komisches und gerade deswegen sympathisches Bild abliefert, so sehr lässt er bei der Arbeit hinter dem Mikrofon Münder ungläubig-begeistert offenstehen. Ich konnte das schon bei Menschen beobachten, für die Hip Hop bisher aus den Fantas, den Broten und "diesem unmöglichen Sido" bestand. Diese Leistung der Genrefan-Rekrutierung kann gar nicht genug gewürdigt werden.

So auch dieses Mal. In einem Interview bestätigte er kürzlich, was sich hier bewahrheitet: Kolle entwickelt sich keinen Millimeter weiter, sondern liefert genau das ab, was er schon "Alphagene" und "Kollegah" zu Highlights machte: grandios unreflektierten, überheblichen und aus der Luft gegriffenen Hollywood-meets-Hundertwasser-Satzbau. Kommt der Solotrack "Halbautomatik" mit seinem überstrapazierten Vergleichsschema noch leicht verpennt und ungewohnt unspektakulär daher, treibt die obligatorische Eurodance-Wurst "G's Sterben Jung" dem Boombap-Blockwart Tränen der Entrüstung in die Augen. Die Raps sind im Guiness-Buch, die Hook in der Großraumdisse zuhause.

Was die Produktion betrifft, lässt sich kaum etwas beanstanden. Crossover-Tracks wie "Mittelfinger Hoch" bedienen sich beim Militärorchester und platzieren die Truppen-Selbstbeweihräucherung im pompösen Bläser- und Streichermilieu. Der aktuell an einem Rockalbum arbeitende Olli Banjo wird indes von einer nervös gezupften Stromgitarre flankiert, während "Westdeutschlands Kings" sich auf einem veritablen Synthie-Thron der Marke Rizbo in Selfmade-Reinkultur austoben dürfen. Casper hingegen wird für "Rock'n'Roll" im wahrsten Sinne des Wortes mit Marteria zusammengetrommelt. Auch Slick, der Selfmade-Drahtzieher höchstselbst ließ es sich - allen Zaunpfählen zum Trotz - nicht nehmen, wieder einen Part beizusteuern und beweist im martialischen "Bruderkrieg", dass er beileibe kein unambitionierter Plattenfirmensesselpupser ist.

Fassen wir also zusammen: Chronik II ist ein Label-Sampler, der von der Klasse und Integrität her ohne Probleme an die zweite John-Bello-Story heranreicht, ohne dabei die Schatten der Unternehmensschließung ausblenden zu müssen. Im Gegenteil: Selfmade Records war lange Zeit dieses kleine, widerspenstige und unabhängige Dorf in Rap-Gallien und ist in diesen Tagen im Begriff, die Erfolgsstory von Aggro Berlin in einem neuen Kapitel fortzusetzen. Das nötige Rüstzeug, das da Wille, Talent und - ganz wichtig - Abwechslung heißt, bringt es jedenfalls mit.

Trackliste

  1. 1. Casper, Favorite & Kollegah - Mittelfinger Hoch
  2. 2. Kollegah - Halbautomatik
  3. 3. Casper - Elefant
  4. 4. Favorite - Krieg (feat. Olli Banjo)
  5. 5. Kollegah & Favorite - Westdeutschlands Kings (feat. Farid Bang)
  6. 6. Shiml - Unter Null
  7. 7. Favorite - Superman
  8. 8. Skit
  9. 9. Slick One - Bruderkrieg (feat. Edo Maajka)
  10. 10. Casper & Favorite - 2x Mehr Wie Du
  11. 11. Kollegah - Gs Sterben Jung (feat. SunDiego)
  12. 12. Shiml - Er & Ich 2009 (feat. MontanaMax)
  13. 13. Favorite - Lebenswerk
  14. 14. Casper - Vatertag
  15. 15. Shiml - Mit Jedem Atemzug
  16. 16. Kollegah & Favorite - JebiGa
  17. 17. Casper - Rock'n'Roll (feat. Marteria)
  18. 18. Casper, Favorite, Kollegah & Shiml - Dampfwalze

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292 Kommentare mit einer Antwort

  • Vor 15 Jahren

    @lord-matte (« Boah Jungs kommt ma klar!

    Meine Erwartungen hat der Sampler auch nicht hundertprozentig erfüllt, vor allem Kollegah war auf seinen Solo-Alben schon deutlich besser, aber wie kann man den Sampler allen ernstes als "verkorkst" bezeichen?
    Nach Deutschrap Maßstäben, sind alle tracks überdurchschnittlich bis sehr gut und 4 punkte sind vollkommen gerechtfertigt. Die Review pastt genau.
    Und die Beats, besonders die von Rizbo, haben mich ziemlich überrascht, die toppen meiner meinung nach alle Alben die nach Harlekin erschienen sind. (Außer vielleicht Im Alleingang) »):

    Vor allem, weil "Im Alleingang" garnicht von Rizbo produziert wurde...

  • Vor 15 Jahren

    @Akronym (« @lord-matte (« Boah Jungs kommt ma klar!

    Meine Erwartungen hat der Sampler auch nicht hundertprozentig erfüllt, vor allem Kollegah war auf seinen Solo-Alben schon deutlich besser, aber wie kann man den Sampler allen ernstes als "verkorkst" bezeichen?
    Nach Deutschrap Maßstäben, sind alle tracks überdurchschnittlich bis sehr gut und 4 punkte sind vollkommen gerechtfertigt. Die Review pastt genau.
    Und die Beats, besonders die von Rizbo, haben mich ziemlich überrascht, die toppen meiner meinung nach alle Alben die nach Harlekin erschienen sind. (Außer vielleicht Im Alleingang) »):

    Vor allem, weil "Im Alleingang" garnicht von Rizbo produziert wurde... »):

    :lol:

    1. Wayne?

    2. hat Rizbo das Outro von "Im Alleingang produziert.

    3. meinte ich, das es beattechnisch (nicht nur die Rizbo-Beats) alle Selfmade-Alben toppt, die nach Harlekin erschienen sind. Und damit meinte ich auch alle Beats dieser Alben, nicht nur die, die Rizbo gebastelt hat.

    Also denk das nächste mal bitte zweimal nach, bevor du son Müll schreibst. :)

  • Vor 10 Monaten

    Die waren gefühlt schon früh dran mit ihren paar dirty south beats. denke casper hatte seine finger im spiel. Hört mal, Superman oder Dampfwalze oder elefant.