laut.de-Kritik
Long Beachs Schattenseiten im (zu schnellen) Schnelldurchlauf.
Review von Mirco LeierVince Staples ist schwer zu greifen. Der 28-jährige Rapper aus Kalifornien pendelte in seiner Musik schon seit seinem ersten musikalischen Outing stets zwischen der unschönen Realität der Straßen, auf denen er groß wurde, klassischer Gangster-Stereotype und dem ironischen Bruch mit alldem hin und her. Selbst in seinen Interviews verwässert seine gewitzte und charismatische Art diese Dualität zwischen tiefgreifenden heimatverbundenen Traumata und einer Tough-Guy Persona, bei der man nie weiß, wie ernst sie eigentlich gemeint ist. Gefühlt jedes Mal, wenn Vince die Tür zu seiner Seele ein Spalt weit öffnete, schlug er parallel zwei andere zu. Sein viertes Album, das seinen Geburtsnamen als Titel trägt, will dies nun ändern.
Sein Gesicht prangt in krisseliger Nahaufnahme auf dem Cover und evoziert eine unwohl stimmende Nostalgie. Wie ein Nachruf oder ein Fahndungsfoto sieht es aus. Dass es beides sowohl als auch hätte sein können, ist gewissermaßen der Kerninhalt von "Vince Staples". Wie ein Geist reist Vince durch seine eigene Vergangenheit. An den Schattenseiten von Long Beach entlang und einmal um den Teufelskreis aus Gewalt herum, der dieses Viertel immer noch fest in seinen Klauen hält. Auch wenn Staples die erwähnten Türen damit (noch) nicht vollends aufstößt, hat man ihn selten so verletzlich, reflektiert und ehrlich gehört.
"Don't get murdered / Little n*ggas out here with no purpose", öffnet beispielsweise "The Shining" unverblümt. Die Bilder seiner Heimatstraßen malt Vince in Blutrot. Trotz cleverer Wortspiele sucht man den Staples-typischen Sarkasmus vergebens. Wenn er darüber rappt, dass er ohne sein Eisen noch nicht einmal unbeschwert schwimmen gehen kann, dann ist nichts daran zum Schmunzeln. Die Beiläufigkeit, mit der Vince Long Beach als die Falle bebildert, die sie sein kann, hallt nach. Kerzen auf Bordsteinen, falsche Farben, tote Freunde, nie schlafende Feinde: alles schlichtweg Teil des Alltags. Am treffendsten formuliert er diesen schockierenden Zyklus und dessen Auswirkungen auf "Sundown Town": "Lost too many friends, to the downtown streets, I can't pretend / That I'll make amends, I know that the blood gon' spill again / Hangin' on them corners, same as hangin' from a ceiling fan / When I see my fans, I'm too paranoid to shake they hands."
Die klangliche Entwicklung und, damit einher gehend, die Versatilität, die Vince seit "Hell Can Wait" durchlief, sind beachtlich. Zwischen klassischem Westcoast-Sound, scheppernden Hyphy-Bangern und experimentellen Detouren war er jedoch selten eines: ruhig. Trotz seiner geerdeten und wenig animierten Vocals, tobte sich Staples in der Vergangenheit meist auf Beats aus, die eher seinem Charakter als seiner Stimme gerecht wurden. "Vince Staples" ändert auch das.
Das gerade einmal 22-minütige Album bildet quasi das Gegenstück zu "FM!", Staples' letztem Outing, das auch in Unterlänge daherkam, aber mit einem durchdachten und kreativen Konzept sowie reichlich Ohrwurm-Material überzeugte. Wie bei "FM!" steht auch hier wieder Kenny Beats über die gesamte Laufzeit an den Reglern, nur ist das Endprodukt eben ein völlig anderes. Seine Instrumentals klingen nicht mehr nach lebhaften Cookouts und halbleeren Hennessy-Flaschen, sondern nach langen Nächten in verrauchten Kellern und noch längeren Spaziergängen in kühlen kalifornischen Sommernächten.
Müde 808s und gespenstische Soul-Samples bilden die Grundlage der meisten Songs, die den vertrauten Westcoast-Sound Staples' mehr und mehr durch immer tiefer werdende Pfützen der Melancholie ziehen und ihn in R'n'B-Gefilde verfrachten, bis er etwa auf "Law Of Averages" oder "Sundown Town" klingt, als fände auch ein James Blake dafür Verwendung. Dieses weitestgehend neue instrumentale Terrain beschreitet Staples jedoch mindestens genauso gekonnt und selbstbewusst wie die lebhafte Comfort-Zone seiner letzten Projekte. Der einzige Moment, in dem eine gewisse Diskrepanz zwischen Kenny und Vince entsteht, ist das schließende "Mhm", auf dem das Trap-Instrumental mehr Feuer ins Klangbild bringen will, als es ihm Vinces müde Stimme gewährt.
Davon abgesehen, gelingt Vince Staples das Projekt, die einzige Schwäche seines vierten Albums ist seine Länge. Auch wenn es insgesamt wenig zu bemängeln gibt - die Songs sind stark instrumentiert, effektiv bebildert und ordentlich gerappt - fühlt es sich so an, als schöpfe Vince sein Potential nicht voll aus. Kein Song traut sich über die drei Minuten-Marke, und die zwei Interludes ergeben außerhalb des nicht allzu ausgereiften Konzeptes wenig Sinn. Das untermauert einerseits das konstante Level an Qualität, das Vince seit seinem Debüt aufrecht erhält, verdeutlicht aber auch, dass seiner Diskographie nach wie vor das Opus Magnum fehlt, das zweifelsohne in ihm steckt.
Gerade im Zeitalter von Streaming-Playlisten, die sich als Alben tarnen, erscheint es löblich, wenn ein Künstler seine Grenzen kennt und sich selbst kreative Limitierungen setzt. Aber Vince Staples könnte ein längeres Projekt mit Leichtigkeit tragen, was den Verzicht darauf umso schmerzlicher macht. Es bleibt ein viel zu kurzer Blick in die Gefühlslandschaft eines der interessantesten Rapper der amerikanischen Westküste, der gefühlt zu Ende ist, bevor er überhaupt erst richtig begonnen hat.
3 Kommentare
Megageil aber 22 min sind tatsächlich extrem nervige Streaming Spieldauer. Macht Alben ihr *****geigen!
Lieber kurz und geil als Doppelalbumtragödien à la die letzte Transatlantic. Die letzte Platte die auf 75 Minuten funktioniert hat war die zweite von The 1975 und das ist sechs Jahre her.
Gutes Album, das den Vorgänger übertrumpft und stilistisch wieder an 06 anknüpft. 4/5 mind.