laut.de-Kritik
Denn alles über drei Minuten pro Song ist Progrock.
Review von Benjamin Troll'Jaja, man wird älter, ne?' Man kennt diesen Satz von Konzertgängern jenseits der 40, die lieber hinten im Saal stehen, nach 22 Uhr auf Wasser umsteigen und die erste Reihe den jungen Wilden überlassen. Nicht mal die seit Jahren hoch verehrten Lieblingsbands bewegen einen noch in den Pit. Man wird halt älter, ne?
Doch manchmal ... ja, manchmal, oder eher ganz ganz selten, bekommt man plötzlich Musik in die Ohren gespült, bei der das alte Feierbiest wieder erwacht. Musik, die sofort vom Gehörgang durchs Herz in die Beine geht. Bei der man Lust bekommt, sich noch mal ins Getümmel zu werfen, sich die Brille aus dem Gesicht treten zu lassen und den sich unausweichlich einstellenden Kater einen guten Rausch sein zu lassen. Eine dieser Bands sind die Wine Lips aus Toronto mit ihrem explosiven Gemisch aus Garage, Punk und Indie. Nicht lang schnacken, sondern auf die Zwölf. Hosen runter, Abfahrt!
Gleich der Opener "Derailer" setzt die Pace. Irgendwo zwischen den frühen Hives und Amyl And The Sniffers fräst sich die Nummer sofort ins Hirn, die Garagepunk-Einflüsse sind im Riffing und im Mitgröl-Refrain überdeutlich. "High On Your Own Supply" lässt nach gerade einmal 1:15 Minuten Spielzeit keine Zweifel mehr an der Marschrichtung der Scheibe. Wer mehr als drei Minuten pro Song braucht, gehört ja schon zum Prog. Das Rotzrock-Konzept trägt "Super Mega Ultra" über die komplette Albumlänge. Immer wieder streut die Band aber auch aus dem Indie entlehnte Elemente ein, die an die 2000er erinnern. So bleiben Songs wie "Killjoy", "Fried 4" oder "Stimulation" bei aller Eile auch spannend.
Kanadier gelten allgemein ja als sehr nette und rücksichtsvolle Menschen. Dass diese Annahme stimmen muss, beweisen Wine Lips mit ihren freundlicherweise auf der Scheibe verteilten Atempausen. Das entspannte "New Jazz", das mit durchaus Pop-Appeal ausgestattete "Serotonin" oder die Indie-Hymne "Lemon Party" sind trotz der niedrigeren Drehzahl alles andere als langweilig. Ganz im Gegenteil belegen sie das Gespür der Band für Song und Sound. Die Kernkompetenz bleibt aber ganz klar das Gaspedal. "Six Pack", "Stella" oder "Burn The Witch" sind allesamt gehetzte Bretter, die den Idealsound einer jeden Garagenband beispielhaft vorgeben.
Nach einer grandiosen Achterbahnfahrt schließt "Super Mega Ultra" mit dem fünfminütigen Finale "Cash Man" (Entschuldigen Sie, ist das etwa Prog?), einer fantastischen Indie-Hymne mit gemächlichem Tempo. Übrig bleibt die Lust, diesen Trip gleich noch mal von vorne zu erleben und die Hoffnung, das eingangs erwähnte Pit-Experiment live und in Farbe auszuprobieren. Come to Leipzig, please! Holy Crap, eh, ich bin bereit.
3 Kommentare
5/5
Genauso wie bei Teen Mortgage Anfang des Jahres: Man hört einen halben Song und hat das starke Bedürfniss, sich ein Skateboard kaufen zu müssen.
Wirklich ein sehr geiles Album. Wurde zu Unrecht (auch von mir) bei der Halbjahresbestenliste vergessen. Wenn die das live nur halb so gut rüber bringen, wird das Konzert nächste Woche ein großes Ding.