laut.de-Kritik

Eine Horror-Oper zwischen Norman Bates und Michael Myers.

Review von

"I don't want to feel you die but if that's the way that god has planned you ...". Umspült von einem eindringlichen Piano steht der schizophrene Killer vor seinem gefesselten, verängstigten Opfer. "I must be dreaming, please stop screaming." Der kranke, soziopathische Anteil vereint alle Kaputtheit der Welt, noch bevor der Song "Steven" zu Ende ist. Dahinter steht der sanfte, gesunde Teil als Zuschauer des eigens angerichteten Blutbades und ringt vergeblich mit dem Mörder in sich. So tötet der tragische Antiheld, was er liebt. "Steeeeeven!" Mit diesem letzten Schrei verzweifelter Agonie klingt das gleichnamige Stück aus. Willkommen in Dr. Coopers Alptraum.

"Welcome To My Nightmare" ist nicht nur Alices ultimative Platte. Das Konzeptalbum markiert auch die Geburt und Entwicklung von "Steven", einem eigentlich ziemlich sympathischen Typen, der unter gelegentlichem Tötungszwang leidet. Zwischen Norman Bates und dem erst 1978 auftauchenden Michael Myers ("Halloween") macht er es sich in einem lauschigen Soziopathen-Plätzchen bequem. Auf zahlreichen Folgescheiben taucht dieser popkulturell wegweisende Serienkiller auf; so etwa in "Wind Up Toy" von 1991.

Er ist für Cooper die perfekte Figur, hier endlich ohne einengendes Bandkonzept das ganz große Theaterrock-Drama zu erschaffen. Die ehemaligen Gefährten der Alice-Cooper-Band haben künstlerisch deutlich schlichtere Ambitionen und verschwinden kurz nach dem 1974 erfolgten Split in der Versenkung. Ein Glücksfall für Cooper, dessen rapide steigender Alkoholismus seine Kreativität zu diesem Zeitpunkt noch nicht blockiert. Zwischen Saufgelagen mit John Lennon, Ringo Starr, The Who und Gesprächen mit Dali lässt er seinem Ideenreichtum freien Lauf.

Heraus kommt mehr als nur ein kleines bisschen Horrorshow. Besonders die musikalische Intensität und Vielfalt dieser elf Songs verweist alle vorherigen Scheiben auf die hinteren Plätze. Schon das eröffnende Titelstück lockt den unbedarften Hörer in seine schauderöse Parallelwelt. Vom Ruhepol kocht das Lied mit schön eingewobener Psychedelik und gedimmten funky Bläsern zum glühenen Höllenklumpen hoch. Von hier aus gibt es kein Entkommen mehr.

Nebenbei zaubert der Mann aus Detroit königliche Genregäste aus dem Hut. Filmlegende Vincent Price zeigt sich von Cooper und seinem Projekt begeistert. In makellos theaterhafter Intonation adelt er "Devil's Food" mit seiner ausdrucksvollen Stimme. Wichtigster Partner in Horror ist jedoch ein ganz andererr Mann: Haus- und Hofproduzent Bob Ezrin.

Der Kanadier Ezrin produziert und arrangiert zahlreiche Cooper-Alben. Er ist ohnehin der Richtige für guten Pomp und (melo)dramatische Vorstellungen. Lou Reeds Meisterwerk "Berlin" ist gerade im Kasten. Pink Floyds "The Wall" wird folgen. Zutaten beider LPs finden sich im Nightmare-Duktus zuhauf. Besonders in den ruhigen Passagen ähnelt sich die Atmosphäre mitunter. Wer genau hinhört, bemerkt, dass Waters, Coopers und Reeds Einfälle ohne das ordnende Händchen dieses Könners sicherlich weit weniger glanzvoll ausgefallen wären.

Zugegeben: die Rockmomente haben den Großteil ihres Härtepotentials eingebüßt. Dafür klingen sie sympathisch und teilweise fast schon knuffig Muppet-Show-kompatibel. Kein Wunder, dass Cooper kurz darauf bei Kermit und Co. als Gaststar auftaucht. Er ist ohnehin der einzige Mensch auf diesem Planeten, der sowohl bei den Muppets als auch bei den Simpsons auftrat. Doch allzu sehr soll man sich von der freundlichen Hülle nicht täuschen lassen. Hinter der eingängig rockenden Maske lauert auch weiterhin das Abseitige. So beschäftigt sich "Cold Ethyl" mit Nekrophilie, die swingende Broadway-nummer "Some Folks" mit den verborgenen Untiefen der menschlichen Natur.

Das allerbeste, das er in diesem Bereich des Unheimlichen serviert, ist seit 40 Jahren die großartige Songtrilogie "Years Ago"/"Steven"/"The Awakening". In nur zwölf Minuten gibt es hier das volle Soziopathenprogramm Stevens. Nichts ist so trostlos wie ein stillgelegt vor sich hin rostender Jahrmarkt. Und jener in Stevens Kopf "has closed years ago". Wer jenem auf seinem verstörenden Psychopfad folgt, versteht, warum Cooper einer der musikhistorisch wichtigsten Rocker ist. Unerreichte Zerquältheit allein schon in der Stimme!

Zu guter Letzt gibt es mit "Only Women Bleed" eine der wundervollsten Balladen aller Zeiten. Neben "School's Out" oder "I'm Eighteen" gehört diese dunkle Perle zu seinen unbedingten Aushängeschildern und Chartstürmern. Das kommt nicht von ungefähr. Die Sogkraft der großen Melodie ist immens. Dazu enthält sie den wohl ungewöhnlichsten Cooper-Text überhaupt.

Es geht um häusliche Gewalt, Herzenskälte und totalen Untergang. Mit liebevoller wärme erzählt er die Geschichte einer vom Ehemann gedemütigten, getretenen und vernachlässigten Frau. Die Zerstörte rächt sich bitter und konfrontiert den Gatten eines Abends nicht mit dampfendem Essen sondern geöffneten Pulsadern. "... come watch me bleed."

Kaum zu glauben, aber wahr: Trotz seines Images als Schocker und jugendverderbender Dorn im Auge aller Konservativen hagelt es Applaus von Feministinnen und Künstlerinnen. So covern unter anderem Tina Turner, Etta James und Tori Amos diesen herrlich traurigen Evergreen. An der Balladenfront erweist sich Alice über die Jahre sowieso als Meister. Es lohnt sich sehr, eine Playlist mit den sanften Cooperismen zu erstellen. Als besonderes Schmankerl zum Weiterhören sei das großartige "I Never Wrote Those Songs" von 1977 empfohlen.

Mehr als dreißig Jahre später lässt er diesem Meilenstein der Rockgeschichte ein Sequel folgen. Das Album "Welcome 2 My Nightmare" verfügt jedoch nicht ansatzweise über die Klasse des Originals. So gilt auch weiterhin nur für den ersten Teil: "Welcome to my nightmare. I think you're gonna like it."

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Welcome To My Nightmare
  2. 2. Devil's Food
  3. 3. The Black Widow
  4. 4. Some Folks
  5. 5. Only Women Bleed
  6. 6. Department Of Youth
  7. 7. Cold Ethyl
  8. 8. Years Ago
  9. 9. Steven
  10. 10. The Awakening
  11. 11. Escape

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2 Kommentare mit 3 Antworten

  • Vor 8 Jahren

    Dieser Kommentar wurde vor 8 Jahren durch den Autor entfernt.

  • Vor 8 Jahren

    Klassiker, keine Frage,
    für mich ist das "Trash" Album von 1989 aber "Number One", einfach weil es zu seiner Zeit (für mich) die perfekte Hardrockplatte war...

    • Vor 8 Jahren

      "Trash" ist ohne Frage sehr gut, aber im Kanon all der Alice Cooper Klassiker seit den Siebzigern kann das schon von der Zeit her niemals die Nummer Eins sein.

    • Vor 2 Jahren

      Für mich sind die ALben bis Mitte der 70er Jahre seine Besten. Vor allem war es die beste Band die er hatte.
      Neil Smith ein begnadeter Drummer . Dennis Dunnayway am Bass unerreicht. Und Michael Bruce und Glen Buxton fantastische Gitaristen. Ausserdem haben sie zusammen mit ihm mit die besten Songs komponiert und getextet.
      Michael Bruce schrieb "Caught in a Dream".
      Dennis Dunnaway schrieb "Black Juju"
      Und viele Songs schrieben sie alle gemeinsam.
      "Schools Out", "I´m EIghteen" , "Is it my Body" , "Elected" , "Generation Landslide" u.s.w.

    • Vor 2 Jahren

      Hallo YuiKato,

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