laut.de-Kritik
Psychedelic-Rock, facettenreich und wandelbar.
Review von Tobias TißenIn Sachen Psychedelic-Rock gehören All Them Witches zu den Talentiertesten ihrer Generation – das haben sie mit jeder ihrer bisher fünf Platten bewiesen. Und auch der sechste Langspieler "Nothing As The Ideal" lässt keinerlei Zweifel aufkommen: Erneut beweisen die Jungs aus Nashville, wie facettenreich und wandelbar eine Band innerhalb eines Albums und eines Genres sein kann. Ein weiteres Mal lassen sie nun mit ihren Klängen Bilder, sogar ganze Filme in den Köpfen ihrer Hörer entstehen.
Dass All Them Witches zum ersten Mal eine Platte als Trio einspielten und vollständig auf einen Keyboarder verzichteten, nachdem 2018 zunächst Ur-Keyboarder Allan Van Cleave die Gruppe verließ und auch Nachfolger Jonathan Draper das Jahresende nicht als Bandmitglied erlebte, fällt dabei überhaupt nicht ins Gewicht. Allein Gitarrist Ben McLeod entführt den Hörer mit seinem Instrument schon in so viele, so diverse Klangwelten, dass man die Keyboards der Vorgänger-Platten zu keinem Zeitpunkt vermisst.
Damit legt er gleich im starken Opener "Saturnine & Iron Jaw" los, der im Grunde aus einer Handvoll verschiedener Songs besteht, die als Ganzes beeindruckend gut ineinander greifen. Eine Stärke, die das gesamte Album auszeichnet. Nach einem fast zweiminütigen, düster klingenden Intro eröffnet Ben McLeod seinen Gitarrenreigen, indem er die Saiten bluesig anschlägt, bevor er sich schließlich mit voller Kraft in hartes Riffing stürzt. Drums und der gewohnt pointiert eingesetzte Gesang von Frontmann Charles Michael Parks, Jr. greifen ihrem Kollegen schon bald unter die Arme. Kurz vor der Drei-Minuten-Marke drückt das Trio aufs Gas, brettert zunächst hart stonig voran, bevor das Tempo gedrosselt wird und wieder psychedelisch-bluesiger Rock im Vordergrund steht.
In der Folge nehmen All Them Witches ihre Hörer mit auf einen Trip, den man mit eigenen Ohren und im besten Fall ungestört und ohne Unterbrechung erleben sollte. Hier ist nämlich das ganze Album der Star, nicht ein oder zwei eingängige Hits. In "Everest" lässt Ben McLeod seine E-Gitarre weinen und kreiert im Alleingang wunderschöne, aber niederschmetternde Sounds. Als würde man eine beeindruckende Landschaft bestaunen, von der man aber weiß, dass der Einfluss des Menschen sie nach und nach zerstören wird. "The Children Of Coyote Woman" entführt später mit bluesig-schwerem Country-Rock in den Südwesten der USA – prasselnde Regeneffekte, die an den Doors-Klassiker "Riders On The Storm" erinnern, lassen auch hier wieder Melancholie einkehren.
Zwischenzeitlich wird die Reise kurz zum Horrortrip und "See You Next Fall" verstört mit einem unheilvoll dröhnenden Intro, bevor auch hier wieder eine Idee die nächste jagt. Das mehr verschiedene Gesichter als die gesamte Diskografie vieler Bands, lässt als einziger Song der Platte den Hörer aber auch leicht ernüchtert zurück. Über beinahe den gesamten Track hinweg scheinen All Them Witches auf einen Höhepunkt zuzusteuern, auf dem sich all die über die stolze Laufzeit angesammelte Energie entlädt. Doch man wartet vergebens.
Die daraus resultierende Ernüchterung ist allerdings schnell vergessen, schließlich jagt das Trio direkt im Anschluss weiter durch verschiedenste musikalische Landschaften: Mal ist eine Passage reinrassiger Stoner-Rock, mal hypnotischer Psychedelic-Rock der alten Doors-und-Konsorten-Schule, zwischenzeitlich meint man für einen kurzen Moment gar, Pantera hätten an der Abbey Road vorbeigeschaut, als "Nothing As The Ideal" in den dortigen Studios aufgenommen wurde.
Wie die meisten Reisen endet auch diese dann auf einer wehmütigen Note. "Rats In Ruin" ist ein Klagegesang der schönsten Sorte. Charles Michael Parks, Jr. packt so viel Emotion in seine Stimme, das sie bald zu zerbrechen droht. Das sensible Gitarrenspiel unterstützt diese Emotionen nur noch. Mitten im Song dann ein Cut. Dröhnen, verschiedenste Geräusche erklingen. Schritte, ein Rascheln, Vogelgezwitscher, ein fernes Gemurmel. Ein letztes Mal wird innegehalten, gelauscht und über den sich dem Ende hin neigenden Trip nachgedacht, bevor sich der Sound schlussendlich noch einmal erhebt, nach und nach anschwillt und auf einer sehnsüchtigen Gitarrennote ausklingt. Ein wehmütiger Abschiedsgruß an den Hörer, der diese aufregende Reise mitgemacht hat.
4 Kommentare mit 2 Antworten
Gute Scheibe, wirklich abwechslungsreich und kraftvoll. Gefällt. Gehört 4.5
Könnte... Klingt in Auszügen schön dreckig. Wird gecheckt.
Seht gute scheibe. Aber... wirklich psychedelic rock ist das dennoch nicht. Da braucht es schon etwas mehr historisches bewusstsein. Mal nen blick in die bunten 60er fernab der doors werfen. Was heute davon im stoner- und doom-bereich davon verwendet wird, sind maximal anleihen an damalige klangtechniken. Völlig außer acht bleibt bei heutiger anwendung zudem der damalige soziopolitische kontext, der untrennbar mit psychedelic rock verknüpft ist. Man kann den begriff "psychedelisch" zwar auf stoner und doom mit großer vorsicht anwenden, doch sollte man diesen musiken die historische genre-bezeichnung weniger prominent überstülpen. Das verzerrt die rezeption sonst viel zu stark.
Fand in der Vergangenheit immer wenn ich sie sah, daß denen ein paar Hoden fehlen. Also nicht im Sinne von Höhlenmenschengegniedel, was ja auch oft in dem Bereich verlangt wird, sondern im Sinne von Mut. Die Songs und Gigs waren immer zu schnell langweilig und zu glatt. Ich bin also erst mal vorsichtig pessimistisch, daß denen noch welche gewachsen sind.
Ich bin ja schon froh, wenn ich die Ehre habe heut zu Tage, mich mit einer Frau unterhalten zu dürfen, die keine Hoden hat - so wie früher einmal. Von daher ist deine Klassifikation für mich schon mal ein Anreiz reinzuhören...
Wie jetzt? Früher hatten Frauen etwa noch keine Hoden? Und mein Vorwurf der Hodenlosigkeit (also der Glätte und Langeweile) spricht für die Band?