laut.de-Kritik
Wer hat Angst vorm bösen Pop?
Review von Dani FrommAn den Erfolg von "Triebwerke" anzuknüpfen, dürfte echt schwer fallen. Ein zweiter Hit wie "Willst Du" plumpst wohl kaum vom Himmel. Falls versehentlich doch, dauert es bestimmt nicht lange, bis Alligatoah die ersten vorwerfen, er kopiere nur sein eigenes Konzept und biedere sich noch weiter dem Mainstream an.
Hoppla, letzteres passiert ja längst. Darüber hinaus bemängeln die Menschen da draußen, Alligatoah habe Humor und Biss verloren, sei auch nicht lustiger als der durchschnittliche YouTuber, habe ohnehin die dämlichsten Mitläufer-Modefans, nerve mit seinem allgegenwärtigen, übertrieben pathetischen Gesang und seinem Overacting ... und überhaupt: Sell-Out!
Huh, ja, die Ausverkaufskeule. Die schwingen ja bevorzugt enttäuschte Seit-Anno-Tobak-Jünger, die, statt sich als Early-Adopters in ihrer Geschmacksicherheit bestärkt zu fühlen, in Gesellschaft begeistert kreischender Teenie-Mädels ihre Exklusivität bedroht wähnen. Wo bleibt denn das Insider-Checker-Gefühl, wenn sogar deine elfjährige Nichte textsicher die Alligatoah-Songs mitsingen kann, die inzwischen im Hintergrund irgendwelcher Vorabendprogramms-Reportagen auf ProSieben dudeln?
"Musik Ist Keine Lösung" liefert nun, im Dutzend billiger, neue Melodien, so eingängig, dass sie sich schon nach dem allerersten Hören im Ohr festzecken. Damit gießt Alligatoah reichlich weiteres Wasser auf den Mühlen derer, die ihm seine Poppigkeit vorwerfen. Doch was stört die eigentlich?
Ich versteh' jeden, der mit der völlig hemmungslosen Schlagernähe der Hooklines ein Problem hat. Muss man ja auch nicht mögen. Ich kann mir vorstellen, dass Alligatoahs betont extra sorgfältige Artikulation manchem auf den Zeiger geht. Keinerlei Nachvollzugs-Schwierigkeiten bereitet der Gedanke, das die teils unglaublich widerwärtigen Typen, die er nicht nur in seinen Texten, sondern zudem (mit Mut zur Hässlichkeit) in seinen Videos verkörpert, den einen oder anderen abstoßen. All das ist allerdings nicht neu. Wer sich davon (oder von seinen übertrieben knallfarbigen Clips) von Alligatoahs Qualitäten ablenken lässt, na ... der verpasst eben ein vielseitig begabtes Multitalent.
Alligatoah macht im Wesesentlichen alles selbst. Er komponiert, textet, rappt, singt, produziert, arrangiert und spielt die zahlreich verwendeten Instrumente. Die Gefahr, dass ein anderer es vielleicht virtuoser hinbekäme, nimmt er für die so erworbene Unabhängig- und Eigenständigkeit gerne in Kauf.
Sprudelnd flowen, das kriegen andere auch hin. Sehr schnell sehr dünn wird die Luft allerdings beim Großteil der Kollegen, sobald sie sich an gesungenen Refrains versuchen. Nicht so im Fall Alligatoah: Ein stimmgewaltig intonierter Chorus, der sich durch den Gehörgang unmittelbar in die Hirnwindungen schraubt, gehört bei ihm zum Inventar jedes Tracks.
Wie konkurrenzlos musikalisch Alligatoah zu Werke geht, offenbaren besonders die auf der Deluxe-Edition versammelten Versionen seiner Songs, die er zusammen mit diversen Straßenmusikanten einspielte: Die reduzierten Arrangements betonen die Stärke und Einprägsamkeit der Melodien noch. Die teils recht unorthodoxe Instrumentierung sorgt für speziellen, schrägen Charme. Am meisten beeindruckt aber die ungezwungene Mühelosigkeit, mit der hier aus vorhandenen Songs ganz neue entstehen: als schüttle man das halt mal eben so aus dem Ärmel. Dazu gehört Einiges an Gespür und Können.
Alligatoahs Texte verraten scharfe Augen und einen wachen Geist. Expliziter als zuvor nimmt er sich diesmal gesellschaftlicher Probleme an. "Denk An Die Kinder" entlarvt Tränendrüsen-Drück-Mechanismen der Medienbranche. "Lass Liegen" thematisiert Umweltverschmutzung und Wegwerfgesellschaft. "Teamgeist" dreht sich um die völlig wahnsinnige Frontenbildung, die sich inzwischen nicht mehr nur an einschlägigen Stammtischen, sondern allüberall in den angeblich sozialen Netzwerken beobachten lässt.
In "Gute Bekannte" geht es um die Unfähigkeit, tiefgehende persönliche Bindungen einzugehen. Unangenehme Paragrafenreiter kriegen in "Hab Ich Recht" oder "Vor Gericht" ihr Fett weg. Dabei schlüpft Alligatoah regelmäßig in die Rolle des schmierigen bis eiskalten Ekelpakets. Das "Comeback Des Jahres" feiert er aus der Perspektive der munter wuchernden Krebserkrankung. Wie die meisten Schauspieler pfeift er mit Freuden auf den Part des Faust, solange er den Mephisto geben kann. Am Ende, wenn alles den Bach runtergegangen ist, rufen eh gute wie böse Jungs wieder die eine an, die einen (wirklich?) nie im Stich lässt: "Mama, kannst du mich abholen?" Ich muss weg.
Auf der Standard- wie der Straßenmusik-Deluxe-Fassung bildet der Titeltrack das große Finale. Alligatoah lässt hier, einmal zu verjazzten Drums, einmal zu munterem Herumgeklöppele auf ... ja, worauf denn eigentlich? ... eine ernüchternde, desillusionierende Predigt über sein Rapper-Alter-Ego Kaliba niedergehen.
Schon klar: Diese Platte wird vermutlich tatsächlich weder die Menschheit noch den Planeten retten. "Musik Ist Keine Lösung", mir als Soundtrack zum Weltuntergang aber immer noch lieber als inhaltsleeres Ego-Gewichse oder - noch schlimmer - verkniffenes, frustriertes Schweigen.
20 Kommentare mit 44 Antworten
Gebt's den Schizo-Hatern! Als Aggro der Kiddie-Magnet war, hat's komischerweise keinen gestört.
Ich hörs mir mal an, Alli ist schon nen guten.
Unglaubliches musikalisches Talent dass auch beim vierten Album zu überzeugen weiß.
,das
sry musste
Das Cover geht ja gar nicht. Das ist eine ästhetische Vollkatastrophe. Das tut ja weh.
Das Bemerkenswerteste an dem ganzen Album ist für mich persönlich eigentlich der komplette Mangel an Feature-Gästen abgesehen von einem: Morlockk Dilemma. Ein starkes Statement für beide Künstler, einerseits ein solidarisches Augenzwinkern Richtung Untergrund von dem spätestens seit "Triebwerke" im absoluten Mainstream angekommenen Alligatoah und andererseits ein Zeichen der absoluten Ablehnung aller Schubladensperenzchen seitens Morlockk, der es sich, trotz seiner Position als vielleicht wichtigste Untergrundikonie neben Retrogott, nicht nehmen lässt an allen Facetten des Genres mitzuwirken, sein Feature-Engagement kann mittlerweile schon als eine Liebeserklärung an Hip-Hop verstanden werden, finde ich
siehe auch sein überraschendes feature auf dem kaisa-album
Weiß jemand wer die frau bei Musik ist keine lösung ist ich glaube ich habe die schonmal irgendo gesehn.
Weiss jemand wer die frau bei Musik ist keine Lösung ist ich glaube ich habe die schonmal irgendo gesehn.