laut.de-Kritik
Als der Stein ins Rollen kam.
Review von Giuliano BenassiBob Dylans Auftritt beim Newport Folk Festival im Juli 1965 gehört zu den Legenden der Musikgeschichte. Was genau geschah, ist trotz zahlreicher Filme, Interviews und Zeugenaussagen nicht wirklich zu rekonstruieren. Die gängigste Fassung besagt, dass das Publikum Dylan auspfiff, weil er mit E-Gitarre und Band statt mit Akustikgitarre und Mundharmonika auftrat. Der ehrwürdige Folkie Pete Seeger soll sogar gedroht haben, das Kabel zur Bühne mit einer Axt zu trennen, sollte der Krach nicht aufhören.
Möglicherweise war aber alles ganz harmlos. Anwesende berichteten, dass das Publikum sauer gewesen sei, weil die meiste Zeit des ohnehin kurz bemessenen Auftritts dafür drauf ging, die Instrumente zu stimmen. Seeger sei zum Mischpult marschiert, um auf die heillose Übersteuerung hinzuweisen. Außerdem habe Dylan den zweiten Teil des Sets ohnehin wie gewohnt solo bestritten. Viel Lärm um nichts, also?
Fest steht, dass Dylan vier Monate zuvor mit "Bringing It All Back Home" eine neue Richtung eingeschlagen hatte. In nur drei Tagen aufgenommen, hatte er das neue Material zunächst wie gewohnt mit Gitarre und Mundharmonika eingespielt, an den Tagen zwei und drei dann noch Studiomusiker hinzugenommen, um rockige Elemente hinzuzufügen.
Das Album erreichte Platz sechs in den US-Charts - Dylans erstes in den Top Ten - und enthielt mehrere seiner bekanntesten Stücke. Für das eher gesprochene als gesungene "Subterranean Homesick Blues" nahm er einen oft kopierten Kurzfilm auf (später würde man "Video" dazu sagen), in dem er Blätter mit dem Text in die Kamera hielt und sie nach und nach fallen ließ. "It's Alright Ma (I'm Only Bleeding)" wurde 1969 neben Steppenwolfs "Born To Be Wild" zum Schlüsselsong des Kultfilms "Easy Rider". Dort allerdings in der Interpretation Roger McGuinns, der einem weiteren Song des Albums seinen bekanntesten Erfolg verdankte: In der Version seiner Byrds erreichte "Mr. Tambourine Man" die Spitze der US-Single-Charts.
Um das Stück zu beschreiben, entstand der Begriff "Folk Rock". Ein Genre, das in den folgenden Jahren einen riesigen Erfolg haben sollte und in einer gewissen Hinsicht die populäre Musik änderte. Plötzlich wurde es hip, existentielle Fragen zu stellen und seine Lektüre in den Texten unterzubringen. Rimbaud? Die Bibel? Camus? Allen Ginsberg (der im Kurzfilm zu "Subterranean Homesick Blues" im Hintergrund herumlungert)? Alles erlaubt, und alles cool. Je vertrackter und symbolträchtiger, desto besser, wie Dylan seitdem beweist.
"Bringing It All Back Home" sandte tatsächlich ein klares Signal an den politisch orientierten Teil der Folk-Szene, der sich jährlich in Newport einfand und der sich um Seeger und Dylans Ex-Freundin Joan Baez für Bürgerrechte und gegen den Vietnam-Krieg einsetzte. Dylan hatte ihnen mit "The Times They Are A'Changin", oder "Blowin' In The Wind" einen überragenden Soundtrack geliefert. Dass ihn Fans dafür anhimmelten und ihn viele Journalisten "die Stimme einer neuen Generation nannten", stieß Dylan aber sauer auf.
Dass sein neuer musikalischer und persönlicher Kurs zu Kritik führte, jedoch auch. Ob wahr oder nicht, die Geschichte mit Seeger und der Axt habe ihm fast das Herz gebrochen, erklärte Dylan später. Im Mai 1965 dachte er nach einer Großbritannien-Tour mit Band und Baez sogar daran, die Gitarre an den Nagel zu hängen. Er schrieb sich den Frust von der Seele, füllte Seite um Seite mit bitteren Kommentaren, die er schließlich auf vier Strophen und einen Refrain kürzte. Damit ging er doch wieder ins Studio, um sein nächstes Album in Angriff zu nehmen.
"How does it feel, how does it feel? To be on your own, with no direction home, a complete unknown, like a rolling stone?", so lautete die zentrale Frage dieses Liedes. Dem Magazin Rolling Stone erschien sie so wichtig, dass es nicht nur seinen Namen davon ableitete, sondern das Stück auch zum wichtigsten aller Zeiten kürte. In der Tat ein epochales Lied, das Dylan seitdem mehr oder weniger fix in seinem Liveprogramm interpretiert.
Das dazugehörige Album entstand wie gewohnt in Windeseile, an zwei Tagen im Juni und an weiteren sieben Ende Juli, Anfang August. Eine Band war diesmal von Beginn am Start. "Like A Rolling Stone" widmeten sie den zweiten Session-Tag im Juni, wobei ein Zufall den Durchbruch brachte: Der junge Gitarrist Al Kooper, der eigentlich nur als Zuschauer anwesend war, griff während der Session in die Tasten einer Orgel und verlieh dem Stück jene schwankende Stimmung, die es auch textlich vermitteln wollte.
Mit "Like A Rolling Stone" im Kasten nahm Dylan Kooper mit nach Newport. Wenige Tage später waren sie mit einem neuen Produzenten - Bob Johnson statt Tom Wilson - wieder im Studio, um das Album zu Ende zu bringen. Ende August war "Highway 61 Revisited" bereits auf dem Markt, gerade einmal fünf Monate nach "Bringing It All Back Home". Ein Tempo, das heute kaum noch vorstellbar ist, Dylans Erfolg aber keinen Abbruch tat. Im Gegenteil: Das Album erreichte Platz drei in der US-Charts.
Der Einfluss war enorm. Zum einen bewies es, dass man auch erfolgreich sein kann, wenn man seine musikalische Nische verlässt. Zum anderen waren die Texte so vollgestopft mit Bildern und Referenzen, dass sie wohl noch in hundert Jahren neue Interpretationen ermöglichen. Schließlich ist es auch musikalisch ein selten gelungenes Album. Dass sich die Band immer wieder verspielt, ist kein Makel, sondern steigert die Authentizität. Viel verdankt es auch dem brillanten Gitarristen Mike Bloomfield, den Dylan persönlich mit in Boot genommen hatte und der mir seinem bluesigen Stil Dylans Musik eine neue Facette verlieh.
Der Name der Platte war symbolisch. Der Highway 61 erstreckt sich von Norden nach Süden durch die USA, von Wisconsin an der Grenze zu Kanada am Mississippi entlang bis nach New Orleans am Golf von Mexiko. Dabei führt er außer durch Dylans Geburtsstadt Duluth auch über St. Louis (Chuck Berry), Memphis (Elvis Presley) und jene Kreuzung, an der Robert Johnson dem Teufel seine Seele verkauft haben soll. Der Highway "war mein Platz im Universum. Ich hatte immer das Gefühl, dass er in meinem Blut floss", erklärte Dylan 2004 in seinen Memoiren "Chronicles: Volume One". Die Aussage: Ich bin ein Großer, aber nur einer unter vielen. Meine Musik ist nicht nur Folk, sondern alles Amerikanische.
Eine Straße voller wundersamer Ereignisse, wie der Titeltrack bezeugt, der mit Jahrmarktstimmung aufwartet. Auf gehts, Abraham, töte für mich einen deiner Söhne, fordert Gott in der ersten Strophe. "Abe" reagiert überrumpelt, fügt sich dem Wunsch aber. "'Wo soll diese Tötung stattfinden?' 'Da draußen, auf Highway 61.'" Es folgen vier weitere vertrackte Geschichten, stets mit derselben Auflösung: Highway 61.
Gut genug, um vom Rolling Stone auf Platz 371 der besten Lieder aller Zeiten gehievt zu werden. Noch besser schnitt das abschließende "Desolation Row" ab (Platz 187), die Blaupause für viele von Dylans Stücken in späteren Jahren und sicherlich eines seiner besten. Außer der wirkungsvollen Solo-Begleitung von Gitarrist Charles McCoy spielte Dylan es alleine mit seiner Akustikgitarre ein und malte in elf Minuten ein buntes Bild von Besuchern und Bewohnern in der Gosse. Die Bowery in New York? Eher ein imaginärer Ort, eine Mischung aus Jack Kerouaks "Desolation Angels" und John Steinbecks "Cannery Row", wie ein Kritiker mutmaßte.
Dort tummeln sich unter vielen anderen Matrosen, Polizisten, Nero, Noah, Kain und Abel, Casanova, die Dichter T.S. Eliot und Ezra Pound, ein Zirkus, der Glöckner von Notre Dame, Albert Einstein als Robin Hood verkleidet und der wenig vertrauenswürdige Dr. Filth mit seiner Assistentin. Gleich in der ersten Zeile werden Postkarten einer Hinrichtung verkauft. "Du bist am falschen Ort, verschwinde lieber", sagt Aschenputtel zu Romeo und fasst damit die Stimmung ganz gut zusammen.
Der Sinn dahinter? "Wenn dich ein Lied bewegt, ist das alles, was wichtig ist. Ich muss nicht wissen, was ein Lied bedeutet. Ich habe alles Mögliche in meine Lieder geschrieben. Und ich mache mir keine Gedanken darüber, was das alles bedeutet", erklärte Dylan in seiner Rede zur Annahme des Literatur-Nobel-Preises 2016.
Drei großartige Stücke, die den Rest schon fast in den Schatten stellen. Zu Unrecht: "Ballad Of A Thin Man" mit seinem scheppernden Klavierintro oder die schnelle Bluesrock-Nummer "Tombstone Blues" sind ebenfalls Dylan-Klassiker. Wie auch das melodramatische "Queen Jane Approximately", Abschied und Sehnsucht zugleich. Vielleicht von Joan Baez, aber wer weiß.
Bewegende Lieder schreibt Dylan im siebten Jahrzehnt seines Schaffens immer noch, wie er
2020 mit seinem 39. Album "Rough And Rowdy Ways" bewiesen hat, das als erstes die deutschen Charts toppte. "Highway 61 Revisited" war 55 Jahre zuvor erst sein sechstes, brachte aber einen Stein ins Rollen, der sich heute noch munter weiterbewegt, auch wenn Dylans nasale Stimme mitunter schwer zu ertragen ist.
2005 verwendete Martin Scorsese für den Titel seiner gelungenen Dokumentation "No Direction Home" eine Zeile aus "Like A Rolling Stone". "Aus meiner Sicht gibt es keinen anderen Musiker, der seine Einflüsse so dicht verwebt, um etwas so Persönliches und Einzigartiges zu schaffen", fasste der Kult-Regisseur damals treffend zusammen.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
6 Kommentare mit 6 Antworten
Höre ich gerade erstmals.......
Kann echt was.
Der alte Bob hat nicht umsonst den Status, den er hat!
Lyrisch über alle Zweifel erhaben, musikalisch ziehe ich das weniger bluesige "Blonde on Blonde" aber vor.
Wurde die Regel "Nur ein Meilenstein pro Künstler/Band" jetzt geändert?
die Zimmermanns Lobby hat Druck gemacht, ja.
BD ist auch Teil der Laurel Canyon PopKultur: https://www.youtube.com/watch?v=12_6RWXqJG0
Habe nur fürs Kopfschütteln geklickt, aber durch das Setting noch einen beherzten Lacher und immerhin sogar ein paar ganz interessante Infos oben drauf bekommen. Die immer wieder angedeuteten Verdachtsmomente für Spionage/Geheimdienst (und später bestimmt mal wieder Okkultismus, so weit hab ich aber nicht mehr schauen mögen) sind natürlich schwerer Kappes.
aber natürlich.
Ich gehöre wohl zu der Minderheit, die euren ersten Meilenstein (der damals hier ja nicht nur auf Gegenliebe gestoßen ist) besser finden. Klar, "Like a Rolling Stone" ist toll, aber trotz musikalisch eigentlich vielseitigerer Aufstellung mit Band und so finde ich "Highway 61 Revisited" (und auch den gleich mit umschriebenen direkten Vorgänger) irgendwie ein bisschen dröger und auch textlich nicht ganz so zwingend. "The Times They Are A-Changin" ist sowieso mein Lieblingsstück von ihm. Naja, soweit zumindest, "Blonde On Blonde" und "Blood On The Tracks" habe ich (unter anderem) noch vor mir. Werde ich mir aber wohl Zeit mit lassen, nachdem mich das hier wie gesagt aus heutiger, naiv-ignoranter Sicht nicht so umgehauen hat.
*findet
Konstruktiv, detailiert und unique
Schöner text über musik, die mich nicht interessiert, weitaus mehr aber die hingabe
Probs
Ich dich (meistens) auch, Garri
Hat damals für mich die Tür zum Bob-Dylan-Universum geöffnet. Es ist tatsächlich auch der ideale Einstieg in seine Diskographie (falls es hier tatsächlich Leute gibt, die noch nie ein komplettes Album von Dylan gehört haben). Auch wenn „Blonde on Blonde“ natürlich facettenreicher, „The Freewheelin...“ das bessere Songwriter-Album und „Blood On The Tracks“ persönlicher ist.