laut.de-Kritik

Schwerstarbeit für die Gehörgänge.

Review von

Boris tanzen seit Jahrzehnten auf der dünnen Linie zwischen anerkannt verträglicher Musik und Noise. Und zwar wie ein Stockbesoffener, weshalb sie häufig auf einer der beiden Seiten herunterfallen und ein Weilchen liegenbleiben. Welche Konsequenzen dieser Ansatz hat, zeigt "She Is Burning", der Metal-Punk-Opener von "Heavy Works", dem dritten Album von 2002 - hier in der Version von 2022. In dem Track geht es 3:40 Minuten nach vorne, drei Leute und ihre Instrumente schreien wie die Geisteskranken. Richtig, richtig auf den Sack geht einem aber nur diese völlig stoische Rassel, die zwei Drittel des Songs so unerklärlich weit nach vorne gemischt ist, dass man noch nächtelang von ihr träumt.

Die besten Boris-Alben, und davon gibt es viele, ließen einen immer verblüfft und wund zurück. Track Nummer zwei, "Cramper", beginnt gefühlt bereits 20 Sekunden, bevor der erste Song überhaupt vorbei ist, so überhastet stürzt er sich in die Gehörgänge. Es zeichnet Atsuo, Takeshi und Wata aus, dass sie ihre besten Songs so schreiben, als würden sie gerade beschossen und gingen von ihrem unmittelbaren Ableben aus. Wer von den Dreien singt, kann man auch als langjähriger Fan nur schwer unterscheiden. Sie nehmen sich aber nicht viel. Fast genauso schwer ist es, präzise zu bestimmen, wo sich Boris in ihrer drei Dekaden überspannenden Karriere gerade befinden.

"Heavy Works", das lässt sich festhalten, ordnet sich im Oeuvre der Band zwar in den Rock-Teil ein. Die Platte ist aber nicht nur eine Reinkarnation der ersten beiden Alben sowie des nach wie vor herausragenden "Heavy Works" von 2002, sondern zeigt eine Band, die dank Kollaborationspartner wie Sunn O))) und Merzbow einiges dazugelernt hat. "Blah Blah Blah" schlägt einen anderen Weg ein, und das nicht nur, weil ein Saxofon zum ersten Mal auf dem Album als solches zu entziffern ist. So könnten sich Muse heute anhören, wären sie nicht irgendwann ins Weinerliche abgebogen. Eine Mischung aus Dir En Grey und Viagra Boys kommt einem ebenfalls in den Sinn.

Ein ähnlicher Song findet sich auf der Scheibe aber nicht mehr. Stattdessen machen die Japaner auf "Ghostly Imagination" einen auf Al Jourgensen (und landen damit einen sehr formelhaften Tiefpunkt) und ziehen mit "Nosferatou" eine gelungene Space-Rock-Oper ganz ohne Sänger, Glitter und Drumherum auf. "Question 1" lässt als gewöhnlicher J-Rock mit hohem Alternative-Anteil wenig Fragen offen, gibt sich zwischendrin kapriziös und artsy, bleibt jedoch ein Filler.

"My Name Is Blank" erinnert an "No" von 2021, das Hymnische im Punk ist Boris' Sache aber nicht. Je sorgfältiger ein Song auf eine gewisse Idee reduziert wird, um den Hörer ausnahmsweise nicht komplett zu überfordern, desto mehr wirken die drei Borisse, als fühlten sie sich unwohl in ihrer Haut. Denn quer durch Punk, Metal, Stoner Rock, Doom, Proto-Metal, Pop, Drone, Ambient und einige weitere Genres geht es bei Boris schon immer um diese Überforderung. Deswegen passte auch ein Wahnsinniger wie Merzbow als Kollabopartner so gut zu dieser Truppe.

"Heavy Works" wird dieser Stärke 2022 nicht durchgehend gerecht, wenn "My Name Is Blank" und "Ruins" zwar auf hohem handwerklichen Niveau, aber vorhersehbar durch breit ausgelatschte Punk Metal-Pfade sausen. Da überzeugt der Hardcore-Track "Chained" mit seinem ausgesprochen starken Gesang, der Tempo- und Intensivitätsnadel im blutroten Bereich und seinem verfremdeten Glockenspiel, das auf dem Refrain wie ein Schiffchen auf der berühmten Welle von Katsushika Hokusai reitet, auf ganz anderem Level.

"(Not) Last Song" entlässt den Hörer unbefriedigend, denn wie jeder missratene Schlusssong ist dieser hier als eben solcher geschrieben und nicht einfach ein guter Song, der organisch ans Ende passte. "Heavy Works" lässt in seiner dritten Inkarnation nach 2002 und 2011 ungewöhnlich viel liegen, ist eine der vergleichsweise heterogensten Platten der Japaner und vielleicht im Nachhinein wichtig für deren musikalische Entwicklung - für den Hörer sieht das aber anders aus.

Trackliste

  1. 1. She Is Burning
  2. 2. Cramper
  3. 3. My Name Is Blank
  4. 4. Blah Blah Blah
  5. 5. Question 1
  6. 6. Nosferatou
  7. 7. Ruins
  8. 8. Ghostly imagination
  9. 9. Chained
  10. 10. (Not) Last song

Videos

Video Video wird geladen ...

Noch keine Kommentare