laut.de-Kritik

Bunt, abgedreht, spirituell und stellenweise trashig.

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Manchmal hat die alte Redewendung eben doch unrecht. "Finding Gabriel", das neue Album des amerikanischen Jazzpianisten Brad Mehldau, kann man durchaus anhand seines Covers beurteilen. Das mag zunächst wie eine vernichtende Kritik klingen, denn die schiere Scheußlichkeit des Artworks bedarf keiner Diskussion.

Doch über derartigen Mut zur Hässlichkeit Häme und Polemik auszuschütten, wäre so einfach wie ungerecht. Vielmehr sagt das Cover bereits einiges über den Kosmos und die Thematik des Albums aus - wenn man sich denn einmal mit der überladenen Scheußlichkeit arrangiert.

Besonders ins Auge sticht die weibliche Figur in der Mitte des Bildes, die zentral über Mehldau selbst schwebt und zugleich Engel und Columbia, die weibliche Verkörperung der USA, zu sein scheint. In verschiedenen Formen wird uns diese Figur auf dem Album begegnen, denn die Auseinandersetzung mit Religion und der politischen Gegenwart in den USA stellen die beherrschenden Themen auf "Finding Gabriel" dar.

Das Album eröffnet "The Garden", das wie alle Stücke auf dem Album nach einer Bibelstelle benannt ist. Gemeinsam schaukeln sich ein Chor und Mehldau am Klavier von einer träumerischen Ballade aus immer weiter hoch, bis das spirituelle und sphärische Gebilde um die vier Minuten-Marke bricht. Bläser und Schlagzeug fransen das ursprünglich dichte Stück aus und verleihen diesem eine chaotische Note. Es liegt nahe, "The Garden" als Allegorie auf die biblische Geschichte von der Vertreibung aus dem Garten Eden zu verstehen.

Das darauffolgende elegische "Born to Trouble" beginnt klassisch jazzig. Es ist das Stück des Albums, das am deutlichsten macht, was Brad Mehldau in der Vergangenheit Vergleiche mit dem großen Bill Evans beschert hat. Aber ein klassischer Jazzpianist will der Amerikaner schon lange nicht mehr sein. Weshalb im weiteren Verlauf immer mehr elektronische Elemente das Geschehen dominieren.

"St. Mark Is Howling in the City of Night" beginnt mit scheppernden Synthieklängen und Streichern wie aus einem dystopischen Science-Fiction-Soundtrack. "Hey"-Chants und Drums steigen ein, und nach einer kurzen Pause zur Mitte des Stücks wähnt man sich wirklich im Abspann eines Films. Das Stück beenden Streicher wie aus einem Quartett von Dmitri Schostakowitsch, unter die eine MPC-artiges Schlagzeug gelegt wird.

Kurzum: Mehldau streift mal dieses, mal jenes Gefilde. In eine genaue Schublade stecken wollte sich der Pianist bekanntlich noch nie. Doch selbst gemessen an den eigenen Standards als ewiger Grenzgängers ist "Finding Gabriel" ein extrem heterogenes und vielschichtiges Album.

Teilweise verlässt er die Grenzen des Jazz auf dem Album auch vollends. Würde man nicht wissen, dass Mehldau dahinter steckt, man würde das sphärische "Striving After Wind" bis fast zum Ende hin eher Four Tet zuschreiben.

Trotz aller elektronischen Spielereien ist die menschliche Stimme das beherrschende Element auf "Finding Gabriel". Zum hymnischen Charakter des Albums tragen neben den Chören auch die Melodiebögen von Mehldau selbst bei. An den Tasten beschreibt der Jazzpianist nahezu ausnahmslos Gesangslinien und verlässt dabei kaum einmal das mittlere Register. Es ist gerade die vokale Ausrichtung, die für den religiösen Charakter des Werkes sorgt.

Aber auch für eine Auseinandersetzung mit der politischen (Miss-)Lage bleibt noch Zeit. Die "Hey-Rufe" aus "St. Mark Is Howling in the City of Night" und der fette Trump-Engel auf dem Albumcover hätten uns auf "The Prophet Is a Fool" eigentlich vorbereiten können. Trotzdem hört man überrascht auf, als einem im Hintergrund plötzlich eine fanatische Menge entgegen schreit.

Später steigt dann auch der törichte Prophet selbst in die Parolen seiner Anhänger ein. "Built that wall!" lässt Mehldau den an den amerikanischen Präsidenten angelehnten Prediger skandieren. Es sind drei Worte, die dem Hörer einen leichten Schauer über den Rücken jagen. Die eigene Interpretation der gegenwärtigen Lage in den Vereinigten Staaten verpackt der Musiker in einen Dialog.

- "Who is he?", will eine Kinderstimme wissen.
- "He's just a voice", antwortet ihm sein Vater "He speaks for them, they're just scared. They think he makes them stronger"
- "Does he?"
- "No, he weakens them".
- "Then, there not dangerous actually?"
- "No, they are dangerous. Deep inside they suspect they're getting fucked over but they're too proud to admit it. They don't wanna hear it from us. He tells them we're the enemy."

Die erste Hälfte des Stückes erfasst erschreckend genau die paranoide Grundstimmung der gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Lage. Den Protest gegen diesen Missstand artikuliert Joel Frahms im zweiten Teil in einem wütenden Saxophonsolo.

"The Prophet Is a Fool" gehört damit zu den jazzigsten Momenten auf dem Album. Ansonsten könnte man munter den Stilmix durchdeklinieren. Dream Pop ("Make It All Go Away"), Klavierballade ("Born To Trouble"), Electro ("Proverb Of Ashes") um nur einige zu nennen.

Der religiöse Charakter, die Chöre und die gesanglichen Melodiebögen sorgen für den roten Faden des Albums, das davon ausgehend die verschiedensten Bereiche streift wie etwa elektronische Clubsounds, Science-Fiction Soundtracks bis hin zu Protestsongs. Letztlich halten die 55 Minuten Spieldauer ziemlich genau das, was das Albumcover verspricht. "Finding Gabriel" ist comichaft bunt und abgedreht, spirituell angehaucht und stellenweise auch durchaus trashig. Nur eines ist es eben nie: langweilig.

Trackliste

  1. 1. The Garden
  2. 2. Born To Trouble
  3. 3. Striving After Wind
  4. 4. O Ephraim
  5. 5. St. Mark Is Howling In The City Of Night
  6. 6. The Prophet Is A Fool
  7. 7. Make It All Go Away
  8. 8. Deep Water
  9. 9. Proverb Of Ashes
  10. 10. Finding Gabriel

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