laut.de-Kritik
Weltmusik auf einem neuen Level.
Review von Johannes JimenoAus einer kleinen Idee entspringt manchmal ein großes Ereignis. Blues-Gitarrist Ry Cooder reist nach Kuba und trifft dort Juan de Marcos González. Beide reaktivieren etablierte Künstler des sogenannten Son de Cuba aus den 40er und 50er Jahren und spielen Klassiker neu ein. Kubanische Legenden wie die Sänger Ibrahim Ferrer und Manuel 'Puntillita' Licea, der Gitarrist Compay Segundo, Manuel 'Guajiro' Mirabal an der Trompete und Bassist Orlando 'Cachaíto' López formen eine Gruppe der Extraklasse. Der Buena Vista Social Club ist geboren und mit ihm der schillerndste Vertreter der Weltmusik.
Die Kubaner sind ein leidenschaftliches Volk, das die Vorzüge des Lebens zu schätzen weiß und nicht gerade ein Blatt vor dem Mund nimmt, wenn es um das Zwischenmenschliche geht. Denn in diesem Album geht es vor allem um die Liebe. Sie ist so vielfältig wie das Leben selbst, und die Lieder erzählen insbesondere von den wehmütigen Momenten, wenn eine Liebe unerwidert bleibt oder nach einiger Zeit erloschen ist.
"Chan Chan" steht sinnbildlich für die Wiederauferstehung dieses scheinbar vergessenen Genres Son: Wenn die Gitarre die Melodie zupft, der Rest der Band langsam einsetzt und der einfach gehaltene Gesang das Ohr streichelt, ist man im Nu in Havanna und trinkt am Strand einen Cuba Libre. Wirklich jeder sollte diesen Song über das Liebespärchen Juanica und den schüchternen Chan Chan kennen.
Das beschwingte "De Camino A La Vereda" warnt junge Männer davor, sich nicht von schönen Frauen vom rechten Weg abbringen zu lassen, den prägnanten Ausspruch "¡Oígame compay! No deje el camino por coger la vereda" (Hör mir zu mein Freund! Verlasse nicht den Weg für einen Bordstein) streut Sänger Ferrer immer wieder ein.
Oftmals beschreiben die Kubaner die Liebe mit der Metapher des Feuers, wenn Feuerwehrmänner und Sirenen die Hauptrollen spielen, weil die Liebenden zu verbrennen drohen wie in "Candela". Um die sexuellen Anspielungen herum entfacht die Truppe wuchtige Rhythmen und hypnotische Lyrics: "La mujer quando se agacha / se le abre el entendimiento / Y el hombre quando lo mira / se le para el pensamiento" (Wenn eine Frau sich herüberlehnt / öffnet sie ihren Geist / Wenn ein Mann sie anschaut / hört sein Denken auf). Zwischen den Zeilen rufen die anderen Sänger unentwegt "me quemo aé" (ich habe mich verbrannt) hinein. Auch in "El Cuarto De Tula", dem Lieblingsstück des Sängers Eliades Ochoa, wiederholen sich viele Zeilen, bevor es thematisch weitergeht. Verspielte Soli und treibende Grooves sorgen für eine ausgelassene Stimmung.
"Murmullo" versetzt den Hörer in einen Nachtclub der späten 50er durch vergnügte Melodien und einem wundervollen Pianosolo. Anschmiegsam, träumerisch und fast magisch sinniert Ibrahim Ferrer über ein Liebespaar. Kein Wunder also, dass diese Ballade von Hollywood Musicals inspiriert wurde.
Doch nicht nur der Son findet hier seine neue Heimat, sondern auch ein anderes fast vergessenes Genre. Entstanden aus der traditionellen haitianischen Musik etablierte sich im 19. Jahrhundert den sehr auf Rhythmen ausgelegten Danzón, ein Musikstil und zugleich ein Tanz, ähnlich dem Tango. Pianist Rubén González kreiert mit zwei anderen Kollegen Mitte des 1940er den Pianosound des Landes. Zu Zeit der Albumaufnahmen 77 Jahre alt, entdeckt er seine Leidenschaft für das Klavierspiel wieder, nachdem er es aufgrund von Arthritis schon aufgegeben hatte.
Er ist stets der Erste im Studio und in "Pueblo Nuevo" hört man seine Leidenschaft heraus: Wundervolle Melodien und faszinierende Soli laden zum Tanz ein; im zweiten Teil des Songs gehen die Musiker über zum Mambo, einer Mischung aus Son und Danzón mit Einflüssen des Jazz und Vorläufer der bekannten Tanzstile Cha Cha Cha und Rumba.
"Buena Vista" hieß ein alter, nur für Mitglieder zugelassener Social Club auf den östlichen Hügeln von Havanna, in dem viele berühmte und etablierte Musiker spielten. Erneut glänzt González mit famosem Pianospiel, flankiert von der elegant musizierenden Band samt entspannter Rhythmen.
Neben Son und Danzón ertönt ein Bolero-Dreigespann, das die Melancholie hervorragend trägt und zelebriert. "Dos Gardenias" ist der heimliche Star des Albums mit seinem herzzerreißenden Kontrast aus fluffiger Inszenierung und bittersüßen Zeilen einer fragilen Liebe. Ferrers weicher Vortrag könnte kaum passender sein. Ursprünglich von Isolina Carillo in den 1930ern komponiert, gehört es heutzutage zum Standard-Repertoire eines jeden Bolero-Sängers.
"¿Y Tú Qué Has Hecho?" verzaubert mit charmanten Melodien sowie einem hervorragendem Zusammenspiel zweier Akustikgitarren und erzählt von einem Jungen, der wegen einer Frau tiefe Risse in seiner Seele erleidet. Der Titel "Und Du Was Hast Du Gemacht?" spiegelt seine Verzweiflung wider.
Die Melancholie transformiert sich zu schwerer Elegie in "Veinte Años". Die einzige Frau auf diesem Album, Omara Portuondo, besingt eine erloschene Liebe. Sie akzeptiert diesen Umstand nicht, und die Botschaft und das Bedauern über das Ende einer tiefgehenden Beziehung berührt ungemein: "Con qué tristeza miramos un amor que se nos va / es un pedazo del alma que se arranca sin piedad" (Mit welch Traurigkeit schauen wir auf eine Liebe, die von uns gegangen ist / es ist ein Stück der Seele, das erbarmungslos entrissen ist). Sie wünscht sich nichts sehnlicher, als dass ihr Mann sie genauso liebt wie vor zwanzig Jahren.
Gospel und Blues prägen "Amor De Loca Juventud". Wie der Titel "Liebe Der Verrückten Jugend" suggeriert, spielt die Truppe süßliche und luftige Melodien mit einem Funken Wehmut. Auch "Orgullecida", ein toller Frühjazz/Ragtime-Song mit leichtem Cowboy-Einschlag, handelt natürlich von den Hoffnungen und Illusionen der Liebe.
Der typisch kubanische Blues, genannt Guajira, ist auch sehr populär in Westafrika. Er zeichnet sich durch einen gewissen Country-Anteil aus, den Eliades Ochoa durch und durch lebt - er trägt stets einen Cowboy-Hut, wenn er Musik macht. Deshalb klingt "El Carretero" wie ein karibischer Country-Song, jedoch mit gedrückter, passend zum Blues eher traurigen Stimmung. Im Text beschreibt Ochoa das Leben eines aufrichtigen, schaffigen Landarbeiters, der treu seinen Acker kultiviert und übers Land fährt.
Diese aufregende Reise durch die kubanische Musiklandschaft beschließt "La Bayamesa". Sindo Garay, ein Komponist des 19. Jahrhunderts, schildert eine mutige Frau aus dem Ort Báyamo, die lieber ihr Haus abbrennt, als es in die Hände der spanischen Eroberer zu geben. Eine patriotische Ode an Kuba, die einen hoch emotionalen Schlusspunkt im Gewand des Criolla setzt, einem Vorgänger des Son.
"Buena Vista Social Club" hievt das Genre Weltmusik auf ein neues Level dank der frappierenden Authentizität, die die Platte ausstrahlt. Angefangen mit den Topstars der vergessenen Son-Musik, über die Hommagen an die traditionellen kubanischen Musikstile bis hin zum frischen und lockeren Sound, der Kuba so einzigartig erscheinen lässt: Diese CD atmet und lebt Kuba nicht nur, sie ist Kuba. Ry Cooder destilliert mit einem extrem talentierten Ensemble das musikalische Extrakt kubanischer Geschichte samt Lebensgefühl, das für die Ewigkeit währt - bis heute das erfolgreichste Weltmusik-Album überhaupt.
Die ganze Welt liegt Kuba und seinen Altmeistern zu Füßen. Zur Popularität des Albums (über acht Millionen verkaufte Einheiten) trägt auch die gleichnamige Dokumentation von Wim Wenders bei, die sogar für den Oskar in der Kategorie "Bester Dokumentarfilm" nominiert wird. Dabei ist dieser Film en passant entstanden, als Ry Cooder nach seinem Grammy-Gewinn als "Best Tropical Latin Performance" 1998 erneut nach Kuba geht und ein Solo-Album mit Ibrahim Ferrer anstrebt. Im Schlepptau hat Ry seinen guten Freund Wenders inklusive Filmcrew. Der Rest ist Geschichte.
Cooder selbst fasst die Faszination dieses Meisterwerks am besten zusammen: "Dieses Album ist gesegnet mit einigen der herausragendsten Musikern in Kuba zurzeit - ihre Hingabe zur Musik und das Verhältnis zueinander sind für mich eine einzigartige Erfahrung. An diesem Projekt zu arbeiten war eine Freude und ein großes Privileg."
"Musik ist eine Schatzsuche. Du gräbst und gräbst und manchmal findest du etwas. In Kuba fließt die Musik wie ein Fluss. Sie kümmert sich um dich und erneuert dich von innen heraus."
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
5 Kommentare mit 2 Antworten
Ach, was haben meine Freunde und ich diese CD damals rauf und runter gehört, als wir um die 18-20 waren und wir uns für Zigarren, Cocktails und generell Cuba interessierten. Denke ich gerne dran zurück und höre die Musik auch heute noch bisweilen. Wirklich herausragende Musiker sind das, Ibrahim Ferrer und Compay Segundo waren Helden für uns ♥
mega gut
Wahrscheinlich in meiner Top 10 der besten Alben aller Zeiten.
unfassbares album. hab sehr schöne erinnerungen bei den songs. sehr warme musik von meinen inselnachbarn.
Leider hält der Rest nicht was Chan Chan verspricht. Mindestens Song des Jahres.
wenn nicht sogar Song des Monats September 1997
Müsstet schon erwähnen, dass die Scheibe nur was für Leute ist, die mit dieser Art Musik/Weltmusik im Allgemeinen ernsthaft was anfangen können - ich hab mich zu Tode gelangweilt und nach dem dritten Mal hören aufgegeben... Live, auf Kuba, Sonnenuntergang, n Mojito in der einen und die anschmiegsame Liebste in der anderen Hand, sicher hoch okay; aus der Konserve: Eher nicht...