laut.de-Kritik
Konstante Erinnerung an die eigenen Sünden.
Review von Dominik LippeMartin McDonagh dürfte zu den spannendsten Regisseuren des beginnenden 21. Jahrhunderts gehören. Seine Fähigkeit, "traurige, tragische und gewalttätige Geschichten auch mit einer komödiantischen Seite zu sehen", wie es Carter Burwell einmal in The Hollywood Reporter beschrieb, ähnelt durchaus dem Stil von Ethan und Joel Coen. Im Gegensatz zu den beiden jüdischen Existenzialisten drehen sich die äußerst katholischen Filme des irischen Dramatikers jedoch viel stärker um Schuld und Sühne, um Rache und Vergebung. Die Musik verbindet die Filmemacher, teilen sie sich doch den Stammkomponisten.
Mit "Brügge sehen… und sterben?" ("In Bruges") erschien 2008 das erste Werk des McDonagh-Burwell-Gespanns. Eine schwarze Komödie, angesiedelt in der titelgebenden Stadt in Westflandern, die wie ein Ort auf Pause-Taste erscheint. In kleiner Besetzung aus einem Klavier, einer Harfe, einem Bass, einer Gitarre, einem Schlagwerk, drei Streichern und drei Holzbläsern spiegle die Musik "wunderbar die Intimität des Films" wider, wie das Filmmusicjournal richtig erkannte. Burwell verstehe es "prima, die melancholischen und lakonischen Elemente miteinander zu verbinden."
Der Film eröffnet mit Detailaufnahmen von mittelalterlichen Straßen und Skulpturen. Im Hintergrund kann das Publikum einen ersten Blick auf den Belfried erhaschen, einem typisch flämischen Glockenturm, der als eine Art architektonisches Gegengewicht zur Kirche gedacht war. Dazu spielt Burwell seinen "Prologue". Ein nachdenkliches Klavierspiel mit einer Spur Sehnsucht, zugleich wunderschön, aber auf das Wesentliche konzentriert. Bild und Ton gehen Hand in Hand - bis Colin Farrell als Off-Sprecher Humor einfließen lässt und die etablierte Einheit zerbricht.
Unvermittelt erzählt er in seiner Rolle als Ray von einem Doppelmord in London, einem anschließenden Besuch bei Burger King und der folgenden schriftlichen Aufforderung: "Verpisst euch aus London, ihr Wichser! Fahrt nach Brügge." Anstelle einer historischen Perspektive geht es um eine Person aus der Gegenwart, die in eine für sie gänzlich fremde Welt befördert wird. "Ich hab' nicht mal gewusst, wo dieses bescheuerte Brügge ist", mault er nun. Berühmt für seinen gut erhaltenen mittelalterlichen Kern wirkt es wie ein Überbleibsel einer für überwunden gehaltenen Zeit.
"Die Stadt Brügge ist eine reale Figur, vielleicht sogar der eigentliche Antagonist des Films, denn ihre stille Schönheit treibt Farrells Figur von der ersten bis zur letzten Szene in den Wahnsinn", erläutert Carter Burwell auf seiner Homepage. "Die Musik bleibt größtenteils in belgischer Zurückhaltung", als wolle sie den gepeinigten Ray "noch weiter ärgern". Er habe sich gedacht, "es wäre interessant, wenn die Musik die Zerbrechlichkeit der Charaktere zum Ausdruck bringen würde, die im ersten Teil des Films verborgen bleibt, während sie um ihre wahren Sorgen herumtanzen."
Während Ray angesichts der Aussicht, zwei Wochen in der belgischen Provinz zu verbringen, auf dem Zahnfleisch geht, zeigt sich sein älterer Begleiter Ken Daley (Brendan Gleeson) geradezu begeistert. "Ist doch hübsch hier", versichert er hochzufrieden. "Medieval Waters" treibt mit den beiden Protagonisten durch die Kanäle der Stadt. Burwell greift das Hauptmotiv aus dem "Prologue" erneut auf, rückt aber die Flöte ins Zentrum, was dem Ausflug etwas verspieltes gibt. Einzig Farrells Charakter stört die Eintracht. "Du bist der miserabelste Tourist auf der ganzen Welt", beschwert sich Ken bei ihm.
"Wir finden schon ein Gleichgewicht zwischen Kultur und Unterhaltung", versichert Gleesons Figur seinem Kollegen und setzt damit einen ersten Meta-Kommentar. Den Belfried erklimmt er sicherheitshalber ohne seinen Partner, der sich immerfort wie ein bockiges Kind aufführt. "View From The Tower" nimmt seine offene, entspannte Perspektive beim Ausblick ein. Nun übernimmt die Harfe das "Prologue"-Motiv und spiegelt die ausgeglichene Haltung von Ken, die sich mit allem abfinden kann, was da kommen möge. "Ich find's hier schön", wispert er sich selbstvergewissernd selbst zu.
Ken und Ray passieren ein Filmset, wo gerade die "Traum-Sequenz" für ein niederländisches Remake von "Wenn Die Gondeln Trauer Tragen" entsteht. Das Original spielte 1973 in Venedig, der deutlich bekannteren, von Kanälen durchzogenen europäischen Stadt. Und wie damals spielt eine kleinwüchsige Person (Jordan Prentice) eine zentrale Rolle. Farrell hält dieser Vorträge über die suizidalen Neigungen von "Gnomen" und "Zwergen". Unmittelbar wirkt es natürlich hochgradig unangebracht, doch zugleich fügt es sich in die immer wiederkehrenden Märchenmotive ein, die den Film durchziehen.
Als Ray tagsüber über den kleinwüchsigen Schauspieler Jimmy antrifft, erklingt "The Little Dead Boy", was diesen erstmals mit der Vorgeschichte verknüpft. Bei einem Auftragsmord an einem Priester tötete Farrells Figur versehentlich auch ein Kind. Wie ein Trauermarsch setzt sich das Stück in Bewegung und eröffnet dabei Abgründe, die den traumatisierten Killer zu verschlingen drohen. Brügge fungiert für ihn als Ort der Buße, der Verbannung, als konstante Erinnerung an seine Sünden oder auch als Fegefeuer, wie es die schwarze Komödie deutlich suggeriert.
Zusammen mit seinem Partner schaut sich Ray in einem Museum Hieronymus Boschs "Weltgerichtstriptychon" über den Tag des jüngsten Gerichts an, wenn sich die Menschheit in ferner Zukunft für ihre Verbrechen verantworten muss. "Fegefeuer ist dann irgendwie so'n Zwischending", referiert der verbannte Mörder. "Du warst nicht total scheiße, aber so ganz toll warst du auch wieder nicht - wie Tottenham." "The Last Judgement" schleppt sich teilnahmslos dahin, erhebt durch die musikalische Nähe zum "Prologue" aber auch die mittelalterliche Stadt zum eigentlichen Läuterungsort.
Farrells Charakter beschließt, eine Abkürzung zu nehmen. Beim Blick von "Ray At The Mirror" nimmt der Gedanke konkretere Formen an, sich das Leben zu nehmen. Ein getrübter Gedenkmarsch, dessen Nähe zu "The Litte Dead Boy" beide Schicksale miteinander verknüpft. Mit einem Ausflug in Franz Schuberts Liederzyklus "Winterreise" scheint sein Ende besiegelt zu sein. Einsam und frierend verrichtet "Der Leiermann" seine monotone Arbeit, während sich der Erzähler fragt, ob er sich diesem anschließen solle. Je nach Interpretation drückt sich in dem Spieler der Tod oder immerwährende Qual aus.
Mit seinem möglichen Suizid käme Ray ihrem gemeinsamen Auftraggeber Harry Walters (Ralph Fiennes) entgegen. Dieser verlangt von Ken, seinen Freund umzubringen. Mit der Reise nach Belgien habe er ihm noch etwas Gutes tun wollen. "Es ist wie im Märchen dieser Ort, oder?", fragt er Gleesons Figur am Telefon. "Ich würde gern' nochmal Brügge sehen, bevor ich sterbe." Als Mord und Selbstmord zeitlich aufeinandertreffen, zieht "My Suicide Your Homicide" die Spannungsschraube an, was der Absurdität der Szene im Grunde nicht ganz gerecht wird. Statt ihn zu töten, rettet Ken ihn vor sich selbst.
Harry Walters ist außer sich, als er davon erfährt. Für ihn stellt es nicht weniger als eine Frage des Anstands dar. Wenn er "versehentlich oder nicht" ein Kind getötet hätte, würde er sich umgehend umbringen. "Harry Walks" - und zwar zielstrebig Richtung Brügge. Unterdessen macht sich Ken bewusst, dass ihn seine Befehlsverweigerung wohl das Leben kosten wird. "Dressing For Death" knüpft wieder an das Hauptmotiv an. Das Herz mag ihm schwer sein, doch klingt es im Sinne der ihm eigenen Gelassenheit gefestigter und weniger verloren und abgründig als viele andere Stücke.
"Thugs Passing In The Night" schleicht durch die kopfsteingepflasterten Gassen wie im Musikmärchen. Ken und Harrys Aufeinandertreffen verläuft trotzdem wortreich und zivilisiert. "Ich bin froh, dass ich's gesehen hab', bevor ich sterbe", lobt Gleesons Charakter noch einmal mit Blick auf die Stadt, nachdem beide die Spitze des Belfried erklommen haben, um miteinander abzurechnen. Als sie erfahren, dass sich Ray vor dem Turm auf dem Marktplatz befindet, nimmt einer die Treppe - und der andere springt. Irischer Folk von The Dubliners begleitet den Sturz, als sei es Kens letzter Wunsch gewesen.
Der aufgeschreckte Ray versteht die Warnung. Zwischen ihm und Harry kommt es zum "Shootout, Pt. 1" in den Gassen Brügges. Das begleitende Stück ergänzt das bekannte "Harry Walks" um eine E-Gitarre, die dem explosiven Charakter des Drahtziehers entspricht. So hält die elektrische Gegenwart Einzug in die analoge Vergangenheit, ähnlich wie es Morricone einst im Italowestern praktizierte. Zunehmend gewinnt der Film Abstand zu sich selbst, etwa wenn die beiden Schützen ermahnt werden und Fiennes' Figur meta-humorig kontert: "Seien Sie bitte nicht so bescheuert. Das ist der Showdown."
Im Finale entscheidet sich, wie sie sich aus dem Fegefeuer lösen: Befreiung oder ewige Verdammnis? Harry Walters trifft Ray gleich mehrfach, tötet dabei aber auch den kleinwüchsigen Schauspieler, den er irrtümlich für ein Kind hält. "Man muss zu seinen Prinzipien stehen", merkt er noch lakonisch an, bevor er sich mithilfe seiner Waffe aus der Welt verabschiedet. Für den schwer verletzten Ray bleibt hingegen noch eine Resthoffnung. "Vielleicht ist genau das die Hölle: Den Rest der Ewigkeit im beschissenen Brügge zu verbringen - und ich hab' mir so gewünscht, dass ich nicht sterbe."
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
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