laut.de-Kritik
Das Gefühl von Isolation auf diesem Album ist Solaris-tief.
Review von Yannik GölzEine der schönsten Wege, im Internetzeitalter an neue Musik zu kommen, ohne sich zu sehr auf die großen Streaming-Algorithmen zu verlassen, ist YouTube. Da gibt es ein Phänomen, das ich Archiv-Channels nennen würde. YouTube-Kanäle, die zu einem Genre oder einem Thema noch und nöcher Alben posten. Gerade durch die 2010er waren Archiv-Channel ein großer Teil meiner musikalischen Entdeckungsreise, Kanäle wie Wherepostrockdwells, 666MrDoom oder VintageObscura sind unglaubliche Ressourcen, wenn man zu den jeweiligen Genres die Klassiker mehr oder weniger abgegrast hat und sich so richtig in den Boden einer Szene stürzen möchte.
Meine aktuelle Obsession auf diesem Gebiet trägt den Namen VapourMemory. Dieser Kanal und seine Back-Ups wurden in Zeiten des Vaporwaves gegründet, hat sich aber inzwischen auch für viele der kleinen Subgenres im Vapor-Regenschirm geöffnet. Gerade dieser Zeiten findet man viel an Utopian Virtual oder Dreampunk - die cyberpunkig dröhnende Ambient-Fusion aus dem Vaporwave. Wer sich damit vertraut machen möchte, dem seien Klassiker wie 2 8 1 4 und Towers ans Herz gelegt - dieses Genre hat definitiv einen sehr einzigartigen, isolierten, postapokalyptischen Vibe. Und VapourMemory kuratiert ihn mit Exzellenz.
Bevor ich jetzt aber auf dieses Album zu sprechen komme, auf dem ich so fundamental kleben geblieben bin, dass ich eine viel zu späte Review zu einem absoluten Mikro-Artist schreiben muss, eine Sache: Es kommt gar nicht so oft vor, auf eins von diesen YouTube-Alben richtig hängen zu bleiben. Mein Lob an das Un-Algorithmische dieser Kanäle blendet ein wenig aus, dass sie in ihrer Form doch oft dazu einladen, Musik zum Nebenher-Hören zu suchen. Es ist am Ende ja doch nur ein so immens großer Fluss an Relativ-Gleichem, dass viele dieser kleinen Releases sich in Content-förmiger Genre-Konvention auflösen wie die Massentierhaltung von Millionen Nujabes-Type-Beats, die jeden Tag namen- und kunstlos durch den "Relaxing Beats to Study To"-Livestream rauschen.
Es wäre also nicht unwahrscheinlich gewesen, dass "Archive 18-23" die selbe Route gegangen wäre. Dreampunk geht supergut zum Lesen, VapourMemory spuckt diese Alben im Akkord aus, sie tun schon irgendwie den Zweck. Aber dieses Projekt von einem recht anonymen Briten trifft so unglaublich genau den Spot, dass ich es in meinem Herzen schon seit Wochen in einer Reihe mit diesen Dreampunk-Ambient-Classics führe.
Ich gestehe ein, dass Dreampunk ein recht nebulöser Genre-Begriff ist und ich nicht recht ausdifferenzieren könnte, inwiefern das hier kein Ambient-Album ist. Aber zwei Argumente würde ich doch ins Feld führen: Einmal ist da das Tracklisting und das Pacing. "Archive 18-23" ist Crosspolars Debütalbum nach einigen ebenfalls hörenswerten EPs - aber der Begriff des Archivs trifft es recht gut. Es hat nicht diese Ambition des Ambients, ein gleichförmig dahinfließendes Ganzes zu ergeben. Eher entwirft das Tape kaleidoskopisch kleine Szenen, die schnell aufwirbeln, minimale Bewegungen absolvieren und dann sehr abrupt wieder zerstäuben. Die Schnelligkeit dieser Wechsel sorgt für einen fragmentierteren Eindruck.
Und da ist das Andere: Die Stimmung dieser Songs. Howdy. Die Dreier-Folge von "Pattern Recognition" über "Wind Systems" bis zu "Amity" fühlt sich an, als würde man in der Postapokalypse auf einem tausend Meter hohen Dampfschiff die Beine über einem schwarzen, trüben Ozean baumeln lassen, während das Schiff weiter Ruß und Diesel ins Wasser ausstößt. Besonders "Pattern Recognition", diese filigrane kleine Lebenslinie Klavier über einem angedeuteten, dröhnenden Bass gegen ein bitreduziertes Scharren, das durch den Hintergrund schwelt wie ein stärker und schwächer werdendes Signal einer weit entfernten Welt: Das Gefühl von Isolation auf diesem Album ist Solaris-tief.
Zwischendurch erhebt sich etwas belebteres Momentum, zum Beispiel in den Synth-Arps von "ATRAC" oder "Datastream I", aber wenn sie die vormals leere Welt bevölkern, dann nur mit Androiden und Bots. Außerdem halten die Vignetten von posthumaner Bewegung nur kurz an. Fast alle Welt, die dieses Album aufbaut, fadet schnell wieder in Stille und Wellenrauschen aus. Dabei entsteht sogar ein gewisses Gefühl von Storytelling, "Harnessing Confidence" mit seinem sonoren, morgensonnigem Drone fühlt sich wie ein Gegenstück zum trügerisch organischen Closer "U" an, auf dem man Nachtvögel und Vocal-Samples gegen ein schwermütiges Synth-Motiv hören kann. Entweder ist das Dampfschiff angekommen, oder der Protagonist wird im Schlaf von Erinnerungen an das Leben heimgesucht.
Entschuldigt mir das Abdrehen ins Assoziieren, mit solchen Sachen ist es ja immer recht individuell, aber ich wollte festhalten, dass dieses Album wirklich sehr viel in mir auslöst. Es tut das, was so viele Projekte auf dem VapourMemory-Kanal leisten, aber irgendwie findet sich darin mehr Präzision, mehr Bildkraft, mehr Magnetismus. Es ist die trübsinnigste, leiseste Sci-Fi-Musik, die ich wohl seit Aphex Twin und Towers gehört habe. Um auf die Archiv-Kanäle zurückzukommen: Ein Grund, warum sie doch nicht so algorithmisch sein könnten, ist die Tatsache, dass sich in ihren Ökosystemen manchmal Berge auftürmen. Geheimtipp-Riesen, die vor allem diese Welt bevölkern. So sind auf YouTube Bands wie Oh Hiroshima oder Stoned Jesus überproportional beliebt. Ich wünsche Crosspolar, dass dieses Album eine ähnliche Ebene an Geheimtipp-Kanonisierung erfährt, wie es zum Beispiel Desert Sand Feels Warm At Night im eigenen Ökosystem erlebt hat. "Archive 18-23" hat es nämlich in sich und wird Liebhaber*innen die Schuhe ausziehen.
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