laut.de-Kritik
Das Potential für die Topklasse ist da.
Review von Yannik GölzLangsam aber sicher schaffen Enhypen den Sprung in die eigene künstlerische Vision: Mit dem viralen Erfolg ihrer Single "Drunk-Dazed" hat die HYBE-Boygroup letztes Jahr das erste Mal den Schatten ihrer beiden Senior-Gruppen BTS und TXT verlassen – auch wenn ihnen schon ziemlich hohe Verkaufszahlen geglückt sind, haftet ihnen oft noch eine gewisse Awkwardness an: Was genau ist jetzt ihr Konzept? Was genau ist ihr Alleinstellungsmerkmal? Das Repackage ihres Follow-Ups "Dimension" krankt zwar noch an ähnlichen Symptomen, zeigt aber, dass endgültig Besserung in Sicht ist.
Um kurz zu illustrieren, warum Enhypen konzeptuell ein bisschen schräg angefangen hat, muss man auf ihr Debüt-Mini verweisen. Das beginnt nämlich mit einer atmosphärischen Narration und dann einem unterschwelligen edgy Song. Ästhetisch hatten sie im Video dazu so ein Vampir-Ding am laufen, dass ein bisschen bemüht, aber vielversprechend aussah, dazu schien alles in ihrer Aufmachung auf eine Lore-Geschichte wie bei EXO, TXT oder LOONA hinzuweisen. Der darauffolgende Song war ein auf süß gestrickter Reggae-Pop-Rap-Song mit einem Chorus, der "I wanna be your boyfriend" wieder und wieder wiederholte. Hä?
Dieses Problem löst auch "Dimension: Answer" noch nicht so recht. Enhypen stecken mit dem Kopf in einer Ära, in der Boygroups einen guten Titeltrack, eine ansprechende Ästhetik und attraktive Member brauchen, dann verkaufen sich die Platten schon von selbst, ganz egal, welchen Packfiller man noch auf die CD wirft. In Zeiten, in denen Kolleginnen und Kollegen wie die Stray Kids, TXT, Aespa oder Itzy aber schon längst das Medium des Album und der EP als kohärentes Sound-Statement nutzen, fühlt sich das Pacing auf diesem Projekt hinter der Kurve an.
Denn nach der starken Lead-Single "Tamed-Dashed" kommt ein träumerischer Popsong, eine schwülstige Ballade, ein völlig wahlloser 2010er-House-Song in "Go Big Or Go Home", dann ein Trap-Banger, dann eine Spielerei mit dem gerade beliebten Pop-Punk-Sound. Man fühlt sich im negativen Sinne, als würde man gerade durch eine Playlist skippen, vor allem, wenn die Ausbeute an Songs gemischt ausfällt. Besonders "Blockbuster" - auch, wenn er sich irgendwie als Fan-Favorit herauszukristallisieren scheint – klingt für nicht Hip Hop-fremde Ohren doch sehr unsicher. Die Mischung aus einem Amen-Break und einer wummernden 808 mit schrapnelligen E-Gitarren klingt erst einmal interessant, wetzt sich aber an seichten Gesangs-Passagen ab. Vor allem aber walzt der sterile Mix alle Rauigkeiten militant platt, die uniform geautotunten Boygroup-Vocals passen nicht ins Bild.
Mindestens genauso komisch fühlen sich die beiden Repackage-Tracks an: "Blessed-Cursed" versucht mit einem trappigen Downtempo episch und atmosphärisch zu klingen, langweilt aber vor allem, bevor es vom unerklärlich dahinter eingereihten Ukulelen-Getingel auf "Polaroid Love" kalt ausgeknockt wird. Willkommen zurück in der Debüt-Ära, hier schwanken die sexy Vampire binnen zwei Minuten auf verdammte YouTube-Tutorial-Musik um.
Aber schlecht ist längst nicht alles: "Upper Side Dreamin'" nimmt die selben Vocal-Produktions-Ideen und spielt sie hundert Mal effektiver. Der Song flowt angenehm, baut eine angemessen verträumte Stimmung auf und entlädt sie nach erfolgreichem Gevibe in einem überraschend anschmiegsamen Refrain. Und so albern die im Konzept auch wirken: Sowohl der House- als auch der Pop-Punk-Song slappen. "Go Big Or Go Home" erinnert ein bisschen an Katy Perrys "Swish Swish", zumindest darin, dass er zwar durch den Kontext ein bisschen schräg wirkt, aber doch Laune macht und großartige Synths zu bieten hat, wenn man sich darauf einlässt. Und "Attention, Please" traut sich das eine Mal, tatsächlich ein bisschen ruppigere Vocals aufzubauen, sogar ein waschechtes Gitarren-Solo gibt es hintenraus.
Der große Gewinner bleibt aber trotzdem die Leadsingle "Tamed-Dashed". Die kondensiert auf drei Minuten alles, was Enhypen zur Zeit für sich sprechen lässt: In ihren besten Momenten haben die Jungs nämlich eine Höllenenergie, die sie in diese großartig durch den Song führenden Vocal-Kaskaden entladen können. Die Produktion fügt ein paar interessante, atmosphärische Elemente hinter die bretternde Bassline und spätestens das explosive "keep it going" der Bridge leitet in einen fantastischen letzten Refrain über: Die stimmlichen Kontraste zwischen Members wie Ni-Ki oder Jake kommen voll zu Geltung, man spürt eine Sekunde, warum Enhypen kommerziell so vorlegt.
Aber trotzdem fehlt ihnen noch etwas zur aktuellen K-Pop-Oberliga. Vielleicht ist es der Mut zum definitiven musikalischen Statement? Ein bisschen fühlt man sich nämlich schon verschaukelt, wenn der Aufbau, die großspurige Erzählung von Intro, Interlude und Outro großes Konzept versprechen und dann dieses im Grunde völlig wahllose Potpourri abgeliefert wird. Enhypen macht es wie viele K-Pop-Gruppen und versuchen, sich auf Stans zu fokussieren, die kaum andere Musik als K-Pop hören und deswegen über jedes mittelmäßige Schwanken in ein Genre mangels Vergleich glücklich sind. Aber ein Album, das Fans auch außerhalb der Bubble rekrutieren will, braucht schlicht ein ganzes Stück mehr musikalische Identität. Wenn die besten Songs von "Dimension: Answer" diese sogar zu skizzieren scheint, frustriert es doppelt, dass der Rest überhaupt nicht mitzieht.
Noch keine Kommentare