laut.de-Kritik

Symbiose aus Erotik und Horror: Der Gegenentwurf zu Lana Del Rey.

Review von

"Everything's easier way out west", sind die ersten Worte, die Hayden Silas Anhedönia einem binnen weniger Sekunden entgegen haucht. Die in Florida geborene Sängerin kennt den amerikanischen Süden nur zu gut. Den echten amerikanischen Süden. Fernab der pittoresken Küstenmotive Miamis oder den mit bis zur Oberkante mit Touristen vollgestopften romantischen Mississippi-Dampfern. Sie kennt den Süden der Kleinstädte, der Hinterstraßen, der wehenden Konföderierten-Flaggen, der schiefen Blicke, der Bibeltreue. Den Süden, der sich wünscht, Menschen wie sie würden nicht existieren.

Als adoleszente Transfrau teilte Anhedönia nicht die Erlebnisse ihrer gleichaltrigen Mitmenschen. Aufgewachsen in einer Baptisten-Gemeinde als Tochter eines Diakons, erfuhr sie bereits in jungen Jahren, wie es sich anfühlt, für ihre Identität von allen Seiten wortwörtlich verteufelt zu werden. "The first person who told me that I wasn't going to hell when I died was my therapist that my parents forced me to get when I was 16.", erzählt sie in einem Interview mit Pitchfork.

Obwohl Anhedönia Florida und ihre religiösen Wurzeln hinter sich gelassen hat, verbindet sie weiterhin eine tiefe, familiäre aber ungesunde Verbindung mit der Heimat. "Inbred", Inzucht, heißt in der Folge das dritte Projekt, das sie unter dem Aka Ethel Cain veröffentlicht. Der erschaffene Charakter ein Teil ihrer Persönlichkeit: Eine unglückliche, altersschwache Priesterfrau, die nach Mottenkugeln riecht und ihre scheintote Heimatstadt heimsucht wie ein Geist, die im Stillen, für fast niemanden wahrnehmbar, einfach nur noch existiert und beobachtet, um mit biblischer Strenge zu verurteilen.

"Inbred" strotzt nur so vor weiblicher Energie. Mit und vor den Augen Ethel Cains erlebt Anhedönia ihre Jugend ein zweites Mal - nun aber gefestigt und selbstsicher. Als fast schon einschüchternde Femme Fatale pendelt sie zwischen Submission und Dominanz und scheut nicht davor zurück, ihre Sexualität als Waffe einzusetzen. In ihren Worten: "She looks loving and soft but she also looks like she could rip your heart out with her bare hands".

"I owe you a black eye and two kisses / Tell me when you wanna come and get 'em", singt sie auf "Crush" mit dem sinnlich verführerischen Timbre einer Lana Del Rey. Cains Stimme ist einer der größten Qualitäten der Platte. Meist in Reverb getränkt, und mehrfach übereinander gelayert, klingt sie omnipräsent und unglaublich intim zugleich. Verletzlich in der einen und unsterblich in der nächsten Sekunde gleitet sie wie ein gefallener Engel über verwaschene Gitarren und Lo-Fi-Drums und schreit ihren Schmerz in die Welt hinaus. Und wenn ihre gleißenden Vocals im Chorus von "Michelle Pfeiffer" oder im Gänsehaut-Finale des Titeltracks förmlich die Luft in den Ohrmuscheln zu zerschneiden drohen, bekommt man das Gefühl, dass Ethel Cain für niemand anderen als einen selbst singt.

Ethel Cain liefert den Gegenentwurf zu Lanas verträumt romantischen Dream Pop. Cains Musik ist albtraumhaft, abgründig, versaut und endgültig. Als hätte man die Geschichten der Reichen und Schönen, von denen die New Yorkerin singt, vor dem Backdrop einer texanischen Geisterstadt abgepaust. Übrig bleiben ähnlich evokative Beschreibungen ("He looks like he works with his hands and smells like Marlboro reds"), ergänzt durch den Horror der kleinstädtischen Abgründe ("Does your baby know her daddy's a rapist").

Besonders auf "Unpunishable" und "Inbred" wird diese Symbiose aus Erotik und Horror greifbar. Cain singt in fiebrigen Details von "abuse", von selbstbestimmt destruktivem Sex mit Fremden in surrealen Umgebungen und von einer toxischen Bruder-Schwester-Beziehung in einer kaputten Familie ("Older brother made a name for himself with the cops /Scumbag fuck but i swear that he's not") an deren Ende sie ihre eigenen Dämonen der Vergangenheit exorziert: "I'm not scared of god / I'm scared he was gone all along". Die Bilder, die sie beschwört, verschwimmen zunehmend: Rotlicht, Bissspuren und defekte Heizungen, verlaufener Lidschatten, Kotze und der Teufel im eigenen Elternhaus.

Auch wenn Themen wie familiärer Zerfall, sexueller Missbrauch, Armut und Kriminalität in den subtilen Winkeln der meisten Songs zu finden sind, brilliert die EP auch in weniger sinistren Momenten. "Michelle Pfeiffer" und "Crush" sind lyrisch relativ straighte Liebessongs, die sich mehr in ihrer Emotionalität und ihrer horny Teenage-Angst suhlen, als im Elend der Umstände. Nicht zuletzt durch Emo-Alleskönner Lil Aaron, der dem Opener seine Stimme leiht, kommt eine moderne Goth-Stimmung in Sound und Lyrik auf, die sich irgendwo zwischen Lil Peep und The Cure einpendelt.

Der intensive Closer "Two-Headed Mother" denkt diese Ästhetik konsequent weiter: Über ein dreiminütiges Gitarrensolo stöhnt sich Cain die Seele aus dem Leib und stilisiert sich selbst als gemarterter Rockstar kurz vor dem Zusammenbruch. "I've loved before, I'll kill again", flüstert sie und stellt die pechschwarzen Weichen für ihr Debütalbum, das noch dieses Jahr erscheinen und über zwei Stunden lang Ethel Cains Charakter abrunden und ihre Geschichte zu Ende erzählen soll. Und wenn die Platte auch nur annähernd an die Qualität dieses düsteren Vorbotens anknüpft, dürfen wir uns auf einen Sturm apokalyptischer Ausmaße gefasst machen.

Trackliste

  1. 1. Michelle Pfeiffer (feat. lil aaron)
  2. 2. Crush
  3. 3. God's Country (feat. Wicca Phase Spring Eternal)
  4. 4. Unpunishable
  5. 5. Inbred
  6. 6. Two-Headed Mother

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1 Kommentar mit einer Antwort

  • Vor 3 Jahren

    Las sich total vielversprechend. Die Youtube-Embeds klingen aber wie die typischen, melodie- und rhythmusarmen Schlafzimmersongs, die tausendfach jeden Tag auf Spotify hochgeladen werden.

    • Vor 3 Jahren

      So ziemlich genau das selbe dachte ich mir auch. Sehr schade. Als "Gegenentwurf zu Lana Del Rey" pack ich mir dann lieber Chelsea Wolfe oder Emma Ruth Rundle in die Playlist.