laut.de-Kritik

Trau dich zu träumen.

Review von

Knirsch - deine mitgenommenen Sneaker zerbröseln ein vertrocknetes Ahornblatt zu Anthocyan-Konfetti. Die toten, kastanienbraunen Fragmente wirken inmitten des schimmernden Waldes irgendwie außerirdisch. Verheißungsvoll, wenn man an solche Dinge glaubt. Wie ist es hier her gekommen? Ist es ein Omen? Es wäre kein besonders gutes, du hättest es nicht einmal bemerkt, wärst du nicht zufällig drauf getreten. Es ist Herbst, nein Frühling, nein - irgendwo lacht eine Amsel. Lacht sie dich aus? Wo bist du überhaupt? Zedern, Pinien, Lärchen - ein grüner Ozean tanzt im aufkommenden Wind einen unbeholfenen Walzer. Es fühlt sich geborgen an, hier. Wo immer du auch bist, du scheinst hier richtig.

Also läufst du los, wohin weißt du nicht. Du weißt ja nicht einmal, wie du hierhergekommen bist. Irgendwo hin eben, weil es sich richtig anfühlt. Die Blätter zeigen dir den Weg, erst zwei, dann drei, dann Dutzende. Wie unmögliche Brotkrumen zieren sie den Waldboden, ein unfertiges Mandala, deine Schuhe der Pinsel. Wieder und wieder lassen deine Sohlen Konfetti regnen - knirsch.

Früher hast du diese Blätter gerne gepresst. Du riechst Mutters Parfum und Noten von Zucker, Zimt und Nelken füllen deine Nebenhöhlen. Trockener Plätzchenteig krustet an ihren Händen, als sie mit dir dein über Jahre hinweg angelegtes Herbarium durchblättert. Plötzlich, als seist du zu schnell aufgestanden, kehrt alles zu dir zurück - der nasse Fußballrasen, Hawai-Toast im Schwimmbad, das Zeugnis auf dem Rücksitz, ein totes Kaninchen, Oma, Opa, Erdbeerkuchen. Dir wird warm. Ein flüchtiger Krümel Teig bröselt auf das dünne Papier. Du willst ihn mit hungrigen Fingern auflesen, aber brichst stattdessen durch die verdorrte Blüte einer Tulpe.

Es ist Nacht und deine Füße sind nass. Kaltes Wasser streichelt deine nackten Knöchel. Du müsstest frieren, fällt dir auf. Wo sind deine Schuhe? Vor dir schläft ein unendlicher See, der eben noch nicht da war. Unter gleißendem Mondlicht halten die unwirklichen Schemen der Fische ein Schattenspiel ab. Platsch - eine Makrele ergreift das Wort. Ein Nebel rollt in deinen Augenwinkeln über das schweigsame Gewässer. Er scheint so dicht, als könntest du an ihm ersticken. Plitsch - ein Karpfen antwortet schnippisch. Die Stille macht dich nervös. Da! Ein - bevor du den Gedanken zu Ende bringen kannst, erwacht der nachtblaue Riese zum Leben. Der Nebel verdeckt dir die Sicht, aber du kannst sie hören. Hunderte Flossen, die sich im Rhythmus eines Repetitiergewehres streiten, als hinge ihr Leben davon ab. Die Nebelbank legt bestimmend ihre Hand auf deine Schultern. Du schlägst die Augen zu.

Du spürst wie deine Decke dein Kinn kitzelt. Es ist laut und dein Zimmer ist schwarz, zu schwarz. Wärst du ein Kind, hättest du jetzt Angst. Was hinter der Wand aus Schatten liegt, sind nur ferne Erinnerungen. Aber du weißt, dass das nicht so bleiben wird. Auf deiner Netzhaut läuft ein Filmband. Du presst deine Lieder aneinander, bis es schneit. Die Blüte ist kaputt, es riecht nach verbrannten Plätzchen. Papa schreit, Mama weint. Es war dein Kaninchen, fällt dir ein. Wieso ist Oma so vergesslich geworden? Der Erdbeerkuchen schmeckt verdorben. Der Nebel ist bis in deinen Kopf vorgedrungen. Kopfschmerzen lassen dich müde werden. Dann geht die Tür auf.

Knirsch - wieder Wald, wieder Konfetti. Du lächelst, nein, du lachst, laut und glücklich. Dieses mal weißt du genau wo du bist. Du bist zuhause. Frei vom Gewicht der Unwissenheit rennst du los, malst das Mandala endlich zu Ende. Ein Meer aus Blättern winkt dir zu, Fauna und Flora feuern dich an. Wie durch Magie trägt dich der Chanson der tanzenden Bäume, der lachenden Amseln, der streitenden Fische. Hoch empor über das glänzende Dach des Waldes, zu eisigen Gipfeln und feurigen Tälern. Zu all den Orten, die du nur von Postkarten kennst, zu Orten, die niemand vor dir sah. Der Nebel hat sich gelichtet. Erinnerung und Gegenwart sind eins. In jeder Blüte, in jedem Grashalm, in jedem Kaninchen und in jedem einzelnen vertrockneten Ahornblatt. Du fühlst dich leicht. Du weißt nicht nur wo, du weißt wieder wer du bist.

"Oh, get round in the season"

Fishmans haben mit "Long Season" einen auditiven luziden Traum erschaffen. Ein Album, das sich binnen Sekunden in den eigenen Hirnwindungen verselbstständigt. Der Rausch der Bilder, die dieser 35-minütige Song evoziert, ist eine hochdosierter Cocktail aus adoleszenter Nostalgie, Spätherbst, nassem Gras und all den Gedanken, die verfliegen, kurz bevor man sie zu Ende denken kann. Inspiriert von der atemberaubenden Natur Japans hat das Quintett um Shinji Sato eine unvergleichlich schöne Ode an selbige geschrieben.

Wer dieses Album noch nicht auf einer Wanderung durch Chlorophyll-arme Wälder, entlang gespenstisch-stiller Gewässer oder in der blauen Stunde auf einem einsamen Gipfel hörte, der weiß nicht, wozu Musik fähig sein kann. Man muss die Sprache nicht verstehen, um zu fühlen, was Sato singt. Er gibt all den überwältigenden, surrealen Gefühlen, die nie wirklich greifbar werden, wenn man sich für einen Moment inmitten der Natur von der Realität zu lösen scheint, eine Stimme. "From one end of Tokyo to another", reist er - "Halfway dreaming".

Dabei ist "Long Season" auf den ersten Blick nicht mal ein sonderlich komplexes Unterfangen. Da ist diese eine Keyboard-Melodie, die nach wenigen Minuten einsetzt und sich fast durch den gesamten Song zieht, die steigt, fällt, atmet, schweigt und am Ende aszendiert. Sie hypnotisiert dich, verführt deine Gedanken, und ehe du dich versiehst, sind wieder 35 Minuten vergangen. Die begleitenden Arrangements akzentuieren diese Melodie, lassen sie lebendig werden und brechen mit ihr, um ihr am Ende eine märchenhafte Zugabe zu gewähren.

Nach knappen fünfzehn Minuten verstummt das Keyboard und mit ihm für wenige Sekunden auch alles andere. Etwas tropft. Einmal, zweimal. Die Percussion rasselt, erst leise dann laut, dann allgegenwärtig. Alles um einen herum versinkt für kurze Zeit in geordneten Chaos. Wildes Trommeln, cartoonhaftes Tropfen und Rasseln, eine leise schimmernde Synth-Melodie: Wie ein Sturm fegen sie durch den musikalischen Zen-Garten, den Fishmans zuvor zu mühselig errichteten. Es ist ein unheimlicher Moment, eine notwendige Läuterung, ehe die Gitarren und mit ihnen die Keyboard-Melodie wie ein wiederkehrender Traum zu dir zurückfindet.

Ein Akkordeon, mehrere Gitarren, ein Schlagzeug, Violinen, Bass: Siebzehn Musiker*innen waren an diesem Projekt beteiligt. Masaki Morimoto wurde nur ins Studio geholt, um ein paar Noten zu pfeifen, Produzent ZAK saß angeblich so lange vor seinem Desktop, dass seine Augen bluteten - am Ende trugen sie alle einen wichtigen Teil dazu bei, dass aus "Long Season" musikalische Magie wurde. In der Aufnahme ihres letzten Live-Konzerts, das Fishmans wenige Monate vor Satos überraschendem Ableben gaben, wird dieser Effekt körperlich spürbar.

Der Song ist darauf stellenweise fast nicht wiederzuerkennen. Neue hymnische gesungene Vocals finden finden ebenso ihren Weg auf die sechs Minuten längere Live-Version, wie auch neue Instrumente und teils sogar völlig neu eingespielte, improvisierte Passagen. Der experimentelle Drum-Teil in der Mitte des Songs klingt wie nicht mehr chaotisch oder unheimlich, sondern beruhigend und erhaben, hinterlässt ein spürbares Funkeln in der Luft. Die Gitarren in der zweiten Hälfte klingen triumphal, Satos Stimme noch zerbrechlicher und gespenstischer, und das finale Crescendo ist einer der schönsten Momente der Musikgeschichte. Da stehen sieben Musiker*innen auf der Bühne und entlocken ihren Instrumenten nach einer ununterbrochenen vierzigminütigen Jam-Session Töne, die Emotionen in einem wecken, die man nicht einmal benennen kann. Freude, Trauer, Liebe, Nostalgie sind Teil davon, ja, aber da ist noch etwas anderes. Ein Gefühl so tiefgehend und persönlich, dass es jeder für sich selbst erfahren muss, weil Worte ihm einfach nicht gerecht werden.

Manchmal zweifle ich daran, ob meine Leidenschaft für Musik irgendwann aufgebraucht sein wird. Ob ich die Begeisterung verlieren werde, Neues zu entdecken, ob meine die Liebe für Kunst ein Verfallsdatum hat. Immer dann scheinen die drei Japaner, die da lässig auf einem Waldpfad stehen, mich zu sich einzuladen. Weit weg, von Menschen, von Autos, von Städten, von mir selbst. Dann schließe ich die Augen, atme tief ein, drücke auf Play und - knirsch, fange an zu träumen.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Long Season

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